Auf keinen Fall eine Witwerrente

Max Beeler hat seine Witwerrente bis vor den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR geklagt und dort Recht erhalten. Doch die Gleichstellung soll nun anders aussehen: künftig soll es, laut Bundesrat, keine lebenslangen Witwenrenten mehr geben und damit viel Geld sparen. Er schickt eine entsprechende Reform ins Parlament.

Es gibt Dinge, die hat man nicht in der Hand: Schicksal, Tod oder Unfall. Die Betroffenen trifft es oft hart, schuldlos und unerwartet. Um die Betroffenen nicht alleine zu lassen gibt es vernünftige Institutionen, die solidarisch das Risiko der Einzelnen mindern, etwa die Alters- und Hinterbliebenenversicherung – weil es jede und jeden treffen kann.

Max Beeler (im Bild mit seinen Töchtern) hat es getroffen. Er war 41 Jahre alt, als seine Frau tödlich verunglückte. Auf einen Schlag war er alleine für die Erziehung seiner zwei kleinen Töchter verantwortlich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er als Versicherungsvertreter gearbeitet. Doch um sich angemessen um die Kinder kümmern zu können, kündigte er seine Stelle. Das war möglich, weil mit der Annahme der 10. AHV-Revision 1997 die Schweizer Stimmbevölkerung beschloss, dass nebst verwitweten Ehefrauen, auch verwitwete Ehemänner Anrecht auf eine Hinterbliebenenrente haben. Dies ermöglichte es dem alleinerziehenden Vater, sich vollständig der Erziehung seiner Töchter zuzuwenden, ohne in finanzielle Not zu geraten.

Kaum war Beelers jüngste Tochter 18 Jahre alt geworden, erhielt er einen Brief von der kantonalen Ausgleichskasse. Sie teilte ihm mit, dass sein Anspruch auf Witwerrente mit dem Erreichen der Volljährigkeit seiner jüngsten Tochter erloschen. Max Beeler war vor den Kopf gestossen, denn der Anspruch auf Hinterbliebenenrente hätte bei einer Witwe weiterbestanden. Er war mittlerweile im Alter von 57 Jahren, ein Alter, in dem man auf dem Arbeitsmarkt nach längerer Zeit ohne Anstellung kaum noch Chancen hat. Er hatte sich schon einmal mit dem Thema befasst. 2006 hatte Beeler versucht, diese Ungleichbehandlung im Zuge der 11. AHV-Revision zu thematisieren. Seine Petition wurde im Parlament in Bern aber auf die lange Bank geschoben.

Da er sich durch den Entscheid der Ausgleichskasse ungerecht behandelt fühlte, legte er Beschwerde ein – ohne Erfolg. 2011 ging er ans Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Er klagte, dass die Einstellung der Hinterbliebenenrente für Witwer den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Frau und Mann verletze. Das Obergericht lehnte die Beschwerde ab.

Bis nach Strassburg geklagt und gewonnen

Verstehen konnte er es immer noch nicht, lockerlassen wollte Max Beeler erst recht nicht und trug seinen Fall vors Bundesgericht. Im gleichen Jahr anerkannte es, dass es eine rechtliche Ungleichbehandlung von Witwer und Witwen gab. Die Ungleichberechtigung war aber vom Gesetzgeber, dem Parlament, gewollt und so konnte das Bundesgericht nichts daran ändern. Die Diskriminierung bestand also weiterhin. Der Witwer verfasste dann im Alleingang 2012 eine Beschwerde am EGMR. Er beklagte darin, dass sein Recht auf Familienleben (Art. 8 EMRK) verletzt worden sei. Im Jahre 2020 dann, also acht Jahre später, entschied der EGMR zu Gunsten von Max Beeler und zwar mit klarer Aussage: Die Situation sei diskriminierend gegenüber Männern und könne nicht gerechtfertigt werden.

Die Schweiz wurde daraufhin beim EGMR vorstellig und ersuchte, den Fall an die grosse Kammer zu verweisen, was angenommen wurde. Am 11. Oktober 2022 kam dann das letztgültige Urteil: die grosse Kammer bestätigte mit 12 zu 5 Stimmen das vorherige Urteil. Damit war klar, dass die Schweizer Gesetzgebung, welche die Streichung der Witwerrente für Männer bei Volljährigkeit ihres letzten Kindes vorsieht, das Diskriminierungsverbot verletze.

Die Schweiz musste den erfolgreichen Kläger Max Beeler finanziell entschädigen und ihm sowie allen weiteren Männern, die gegen die fehlende Rente geklagt haben, die Witwerrente nachzahlen. Im Nachgang an das Urteil veröffentlichte das Bundesamt für Sozialversicherungen eine Übergangsregelung für laufende und künftige Witwerrenten. Darin heisst es, dass ab dem 11. Oktober 2022 Witwer nicht mehr nur bis zur Vollendung des 18. Altersjahres des jüngsten Kindes eine Rente erhalten sollen, sondern – wie Witwen – unbefristet. War nun also alles gut? Erhalten Witwer wie Max Beeler nun doch Geld? 12 Millionen Franken würde das den Staat jährlich kosten.

Kürzen statt ausbauen

Nicht ganz überraschend geht der bürgerlich dominierte Bundesrat nun den kontraintuitiven Weg. Statt die Leistungen bei den Witwern auszubauen, sollen viel eher die Leistungen bei den Witwen verschlechtert/verringert werden.

Elisabeth Baume-Schneider (Bild unten) vertrat Ende Oktober 24 das Geschäft. Der Bundesrat will die Witwen- und Witwerrenten konsequent nur noch auf jene Lebensphasen ausrichten, in der die Hinterlassenen ihre Kinder betreuen. Bisher erhalten Witwen auch dann eine Rente, wenn ihre Kinder bereits erwachsen sind. Auch Witwen ohne Kinder haben heute Anspruch auf das Geld. Bedingung dafür ist, dass sie beim Tod des Partners mindestens 45 Jahre alt war. Künftig will der Bundesrat nur noch in folgenden Fällen eine Hinterlassenenrente sprechen:

  • Bei Kindern unter 25 Jahren: Bis zum 25. Geburtstag des jüngsten Kindes erhält der überlebende Elternteil – egal ob Mann oder Frau, egal ob verheiratet oder nicht – eine Hinterlassenenrente, nachdem der andere Elternteil gestorben ist. Wird ein erwachsenes Kind mit Behinderung betreut, kann die Rente auch über das 25. Altersjahr hinaus ausbezahlt werden.
  • Zwei Jahre lang Übergangsrente: Sind die Kinder bereits älter als 25 Jahre, geht der Bundesrat davon aus, dass Witwen und Witwer selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Es könne allerdings eine gewisse Zeit dauern, das bisherige Leben anzupassen. Er sieht daher für zwei Jahre eine Übergangsrente vor.
  • Ab 58 Jahren bei Armut: Sind Witwen und Witwer bereits 58 Jahre alt und aufgrund des Todes des Partners armutsgefährdet, können sie im Rahmen der Ergänzungsleistungen unterstützt werden.

Die Übergangsbestimmungen sehen folgendes vor:

  • Witwen und Witwer, die bei Inkrafttreten der Gesetzesänderung das 55. Altersjahr vollendet haben, sollen weiterhin einen Anspruch auf die laufende Rente haben.
  • Ebenfalls beibehalten werden sollen die laufenden Renten für Witwen und Witwer, die bei Inkrafttreten das 50. Altersjahr vollendet haben und Ergänzungsleistungen zur AHV und IV beziehen.
  • Die Renten für Personen unter 55 Jahren und ohne unterhaltsberechtigte Kinder sollen innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung aufgehoben werden.

Die Stossrichtung ist damit klar. Die Frauen sollen damit schneller zurück in den Arbeitsmarkt gedrängt werden, obwohl die Situation für sie dort, gerade ab 50 und längerer Nicht-Berufstätigkeit, oft extrem schwierig ist. Lösen sollen das Problem dann Ergängzungsleistungen und Sozialhilfe, bei denen man am Existenzminimum lebt – weil der Partner gestorben ist.

Volk sagte stets Nein

Bundesrat und die bürgerliche Mehrheit im Parlament drücken ihre Sparpolitik im Moment an allen Ecken und Enden durch, vor allem bei sozialpolitischen Errungenschaften. Die jetzige Reform der Witwenrente soll die AHV ab 2035 mit 770 Millionen Franken entlasten. Dem Vernehmlassungsbericht zu entnehmen ist, dass sich vor allem Arbeitgeberverbände, SVP, FDP, Mitte und GLP, sowie die meisten Kantone dafür ausgesprochen haben. Man wolle den gesellschaftlichen Veränderungen damit Rechnung tragen. Bis jetzt wurden alle Reformen der Witwenrenten vom Volk abgeschmettert. Zuletzt geschah dies 2004, als das Volk eine Reform ablehnte, bei der Frauen, die lebenslang keine Kinder hatten, keine Rente mehr erhalten sollen.

Altersarmut ist in der Schweiz je länger je mehr ein Problem. Betroffen sind dabei vor allem Frauen. Der Verein Aurora, Kontaktstelle für Verwitwete, meldete sich nach dem Vorschlag des Bundesrates mit einer Medienmitteilung zu Wort:

„Die vorgestellte Anpassung ist nicht sozialverträglich und die Schutzmassnahmen sind unzureichend. Für diese Elternteile, speziell für diejenigen, die bei Inkrafttreten der Massnahme gerade nicht die 55 Jahre alt sind (bzw. 50 Altersjahre bei Bezug von EL), die zum weiteren Bezug berechtigen, werden gravierende Vorsorgelücken entstehen. Diese Witwen haben ihren finanziellen Lebensentwurf basierend auf der durch das Gesetz garantierten lebenslangen Witwenrente gemacht. Durch deren Wegfall entstehen Vorsorgelücken, die mit keiner Anstrengung aufgeholt werden können. Finanzielle Nöte in den Jahren vor der Pensionierung und Altersarmut sind die unausweichliche Folge des Wegfalls.“

EGMR sprach sich gegen Kürzungen aus

Das Urteil des EGMR war bei seiner Verkündung bereits klar. Die Richter:innen in Strassburg betonten, „dass dieses Urteil nicht als Ermutigung für die Schweizer Regierung zu verstehen ist, die betreffende Rente für Frauen zu streichen oder zu reduzieren, um die festgestellte Ungleichbehandlung zu korrigieren.“ Dass Bundesrat und Parlament sich gegen die Empfehlungen des EGMR stellen, scheint mittlerweile Usus geworden zu sein.

Und Max Beeler?

Der Witwer, der keine Arbeit mehr fand und die Witwerrente benötigt hätte, soll nun keine erhalten. Es macht den Eindruck, als hätte sich der Staat verbündet, nur um diesem Mann keine Witwerrente bezahlen zu müssen.  Gegenüber 20min sagt er: „Kommt das Gesetz in dieser Form durch, hat dies fatale Folgen. Eine Verwitwung würde dann in fast allen Fällen einen Absturz in die Armut bedeuten. Vor was soll einen die Hinterbliebenenversicherung also schützen, wenn nicht vor Altersarmut? Ist man damit noch „versichert“? Verdient sie mit dieser Änderung noch das Prädikat „Rente“? Hat man für diese Leistung nicht ein Leben lang eingezahlt?

 Reaktionen zur Reform

(rh) Das Urteil des EGMR hat das Thema Witwen- und Witwerrenten neu entfacht und breite mediale sowie gesellschaftliche Diskussionen ausgelöst. Der Vorschlag des Bundesrats stösst dabei auf gemischte Reaktionen.

Die NZZ und der Tages-Anzeiger heben hervor, dass der Reformvorschlag für Frauen erhebliche finanzielle Folgen haben könnte, da viele Frauen im Alter weiterhin auf diese Renten angewiesen sind, insbesondere, wenn sie familienbedingt in Teilzeit arbeiten oder auf eine Karriere verzichtet haben. Hier wird die Notwendigkeit betont, die den spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Realitäten von Frauen Rechnung trägt. Der Blick sieht in der Reform vor allem einen Versuch, durch die Abschaffung lebenslanger Witwenrenten erhebliche Kosten einzusparen. Kommentatoren kritisieren dies als Sparmassnahme auf Kosten der sozialen Absicherung, was insbesondere ältere Frauen treffen könnte, die wenig Möglichkeiten haben, ihre finanzielle Situation durch Erwerbstätigkeit zu verbessern. Die Aargauer Zeitung äussert sich positiver zur Reform und sieht in ihr einen notwendigen Schritt zur Gleichstellung. Der Fokus liege auf der Anpassung an die modernen Lebensrealitäten, in denen Frauen immer häufiger berufstätig sind und eigenständige Altersvorsorge betreiben können. Die Zeitung weist jedoch darauf hin, dass der Erfolg der Reform von einer sorgfältigen Übergangsregelung abhängen werde, um Härtefälle zu vermeiden. Das SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) beleuchtet die Thematik in mehreren Beiträgen und zeigt die Kontroversen rund um den Gleichstellungsaspekt und die soziale Sicherheit auf. SRF verweist auf die gesellschaftliche Verantwortung und diskutiert, wie die Reform auch langfristig Auswirkungen auf das soziale Gefüge haben könnte. Der Bund fokussiert in einem Kommentar auf die gesellschaftspolitische Dimension und sieht in der Reform des Bundesrats einen Paradigmenwechsel. Der Artikel argumentiert, dass die Abschaffung der Witwenrenten eine historische Zäsur sei und fragt, ob die Gesellschaft bereit ist, eine solche grundlegende Veränderung zu akzeptieren. Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob der Bund damit nicht seine sozialstaatliche Verantwortung auf die Individuen abwälze. 20 Minuten nimmt die Perspektive der betroffenen Personen in den Fokus und berichtet über Schicksale von Witwen, die durch die Kürzungen finanzielle Unsicherheit befürchten. Die Zeitung gibt Einblicke in die Lebensrealität der betroffenen Frauen und zeigt die Ängste und Sorgen auf, die durch die Reform entfacht wurden. Watson widmet der Reform einen ausführlichen Bericht und beschreibt die historische Entwicklung der Witwenrenten in der Schweiz. Der Artikel hinterfragt, ob das Argument der Gleichstellung tatsächlich tragfähig ist, wenn soziale Sicherheiten abgebaut werden. Watson betont zudem die Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion, um die Reform im Kontext der Altersvorsorge und der Sozialpolitik besser einzuordnen. Der Schweizerische Arbeitgeberverband und economiesuisse begrüssen die Reformpläne des Bundesrats und betonen, dass das Rentensystem nur durch gezielte Anpassungen langfristig finanzierbar bleibe. Sie sehen in der Gleichbehandlung der Geschlechter in Bezug auf Rentenleistungen einen notwendigen Modernisierungsschritt, der die Eigenverantwortung in der Altersvorsorge stärkt und gleichzeitig die staatlichen Sozialausgaben senken könnte. Von Seiten der Feministischen Friedensorganisation Schweiz wird die Reform hingegen kritisiert. Sie argumentiert, dass es sich hierbei nicht um echte Gleichstellung handele, sondern dass Frauen finanziell benachteiligt würden, solange die strukturellen Ungleichheiten, wie niedrigere Löhne und ungleiche Karrierechancen, nicht behoben seien. Es sei der falsche Weg, eine wichtige soziale Absicherung einfach zu streichen, ohne gleichzeitig die Ungleichheiten anzugehen. Die SP sprach von einem „ Kahlschlag bei den Witwenrenten“ und bezeichnet die Reform als «sozial unausgewogen». Samira Marti betont: „Gerade für schlechtgestellte Frauen kann es fatal sein, wenn eine Rente nach vielen Jahren einfach so wegfällt.“ Die Partei argumentiert, dass besonders Frauen, die jahrzehntelang durch unbezahlte Betreuungsarbeit und Teilzeitjobs benachteiligt waren, stark von den geplanten Kürzungen betroffen wären. Die SP fordert daher eine umfassendere Rentenreform, die die strukturelle Benachteiligung von Frauen berücksichtigt und absichert. Die Grünen Schweiz schliessen sich den Bedenken der SP an und betonen, dass eine solche Reform die finanzielle Belastung auf die ohnehin benachteiligten Bevölkerungsgruppen verlagern würde. Die Grünen schlagen eine umfassende Analyse der geschlechtsspezifischen Altersarmut vor und fordern, dass Reformen nicht isoliert umgesetzt werden sollten. Die FDP Schweiz unterstützt hingegen den Reformvorschlag des Bundesrats und sieht ihn als notwendige Modernisierung des Rentensystems. In ihrer Stellungnahme betont die FDP, dass die lebenslangen Renten im internationalen Vergleich ein veraltetes Konzept seien und dass die Stärkung der Eigenverantwortung und der individuellen Altersvorsorge Priorität haben sollte. Dabei wird jedoch auch eine abgestufte Übergangsregelung befürwortet, um allzu abrupte Einschnitte zu vermeiden. Pro Senectute Schweiz, die Stiftung, die sich für ältere Menschen einsetzt, warnt davor, dass die Abschaffung der lebenslangen Witwenrenten viele ältere Frauen in die Altersarmut treiben könnte. Die Caritas Schweiz äussert ebenfalls Bedenken und sieht in der Reform eine Gefahr für die soziale Absicherung vulnerabler Gruppen. Der Schweizerische Frauenbund (SFB) lehnt die Reform in ihrer aktuellen Form ab und argumentiert, dass die Gleichstellung nicht durch den Abbau von sozialen Absicherungen erreicht werden könne. 

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