Das Verbandsbeschwerderecht steht unter Beschuss. Die bürgerliche Mehrheit torpediert mit einem neuen Vorstoss ein gut funktionierendes Instrument des Rechtsstaats, das dafür sorgt, dass Umweltrecht eingehalten wird. Dem Goliath Wirtschaft ist es aber ein Dorn im Auge.
Die Zugfahrt von Bern nach Lausanne ist nicht irgendeine. Wer von Bern kommt und zuvor durch die flachen, agrarischen Ebenen des Fribourg fährt, biegt bei Puidoux ein in Richtung Lausanne. Vor einem tut sich eine atemberaubende Landschaft auf. Man überblickt den Genfersee und die Weinreben, das Gebiet ist die Lavaux. Die Lavaux ist seit 1977 eine Landschaft von nationaler Bedeutung, im gleichen Jahr durch die Waadtländer Verfassung geschützt und seit 2007 sogar Unesco-Weltkulturerbe. Das Gebiet mit seinen Weinterrassen wird seit dem 12. Jahrhundert bepflanzt.
Über die Jahrhunderte hat sich ein Gebiet entwickelt, das von Natursteinterrassen, Pfaden, Felspartien und Reben geprägt ist. In den Terrassen hat sich eine spezielle Fauna und Flora entwickelt, die gerade in den Trockensteinmauern und Felsnischen ihr Zuhause finden. Hätte man die Waadtländer Behörden in den 70er Jahre einfach machen lassen, würde diese einzigartige Landschaft heute nicht mehr so aussehen. Denn die Hänge und Böden im Lavaux sind geologisch unstabil, sodass gewisse Partien Sicherungsbauten benötigten. Die Behörden nahmen damals jedoch kaum Rücksicht auf die Natur. Erst die Interventionen durch Pro Natura, die vom Verbandsbeschwerderecht Gebrauch machte, führte zu einer objektiven Abwägung zwischen Sicherheitsbedürfnis und Naturschutz. (Bild Bertrand Francey/CGN Lavaux)
Solche Beispiele gibt es zahlreiche. Gäbe es das Verbandsbeschwerderecht nicht, würde heute eine grosse Wasserleitung durch den Aletschwald fliessen, die Autobahn bei Rhäzüns durch Auenlandschaften führen oder das Moorbiotop „Bolle di Magadino“ immer noch als Kiesentnahmestelle fungieren. In allen Fällen war Pro Natura die Klägerin, sodass Gerichte überhaupt dafür sorgten, dass geltendes Recht eingehalten wurde.
Vorreiterin in Europa
Mit dem Natur- und Heimatschutzgesetz von 1967 führte die Schweiz das Verbandsbeschwerderecht ein – und damit als erstes Land in Europa. Erstmals angewendet wurde es 1968 im Engadin, wo verhindert wurde, dass die Kantonsstrasse zwischen Celerina und Samedan eine unberührte Landschaft durchschneiden sollte. 1983 wurde das Instrument auch in das Umweltgesetz übernommen. Mit dem Verbandsbeschwerderecht können Umweltverbände gerichtlich überprüfen lassen, ob die geltenden Gesetze eingehalten werden. Ausüben dürfen es nur Organisationen, die «rein ideelle Zwecke» verfolgen, gesamtschweizerisch tätig sind und sich seit mindestens zehn Jahren mit dem Fachgebiet beschäftigen, um das es in der Beschwerde geht.
Zu Beginn war das Verbandsbeschwerderecht auch unter Bürgerlichen akzeptiert. Die Stiftung Landschaftsschutz, die Raimund Rodewald heute führt, wurde vom St. Galler Bankier und FDP-Politiker Ruedi Schatz mitgegründet. Er war der erste Präsident der Stiftung. Auch der heutige Präsident der Stiftung ist mit Kurt Fluri ein Freisinniger.
Der nächste Angriff
Das Verbandsbeschwerderecht (VBR) ist aber auch seit jeher Dorn im Auge vieler bürgerlicher Politiker:innen. Und gerade jetzt ist es von diesen so stark unter Beschuss wie noch nie. Vergangene Woche hat die Umweltkommission des Ständerats (Urek-S) den nächsten Angriff gestartet. Mit neun bürgerlichen zu drei linken Stimmen hat die Kommission vergangene Woche einer Standesinitiative des Kantons St. Gallen zugestimmt, bei der das VBR bei Projekten, die direktdemokratisch angenommen sind nicht gelten soll. Konkret geht es um die 16 Wasserkraftprojekte. Diese haben für Bundesrat und Parlament Priorität stehen als Anhang im Stromgesetz stehen, das die Stimmenden im Juni angenommen haben. In seinem Argumentarium zur Abstimmung betonte der Bundesrat im Juni noch: „Die Beschwerdemöglichkeiten von Privaten und Verbänden bleiben bestehen“. Die Urek-S sieht das jedoch anders. E soll das nicht mehr gelten und so will sie das VBR bei diesen sechzehn Projekten abschaffen.
Der Grund, weshalb das Verbandsbeschwerderecht wichtig ist, hat einen juristischen Namen: Vollzugsdefizit. Die Schweiz hat ein Umweltrecht und darin griffige und sehr gute Gesetze, die den Schutz der Umwelt regeln und national gleich sind. Doch auch diese werden missachtet, von Privaten wie auch Behörden. In vielen Gemeinde- und Kantonsparlamenten hat beispielsweise die Bauwirtschaft grossen Einfluss. Raimund Rodewald, Präsident des Schweizer Landschaftsschutzes, erklärt das in einem Interview mit der NZZ: „Wo kein Kläger, da kein Richter. Ohne Beschwerden der Umweltverbände ist da niemand, der prüft, ob ein Projekt tatsächlich den Gesetzen genügt. Wir sind die Stimme der Natur, die sonst keine hat.“ Es können noch so gute Gesetze geschrieben werden. Wenn da niemand ist, der als Kläger auftreten kann, ist das ein rechtsstaatliches Defizit. Gerade in Berggebieten, wo Private meist Bergbauern in bescheidenen finanziellen Verhältnissen sind, wird klar, wie dringend es eine Instanz braucht, die klageberechtigt ist.
Auch auf einer anderen Ebene wird deutlich, wie wichtig das VBR als Instrument ist. Viele der Klagen oder Beanstandungen sind nämlich erfolgreich. In den vergangenen Jahren hatten die Verbände bei der Hälfte bis zu einem Drittel Erfolg. Pro Natura und WWF sprechen von 70-80 Prozent Erfolg. Das heisst, dass bei all diesen Fällen von den Gerichten festgestellt werden musste, dass gängiges Recht nicht eingehalten wurde oder es aber Anpassungsbedarf im jeweiligen Projekt gab. Das bedeutet auch, dass die Umweltverbände das Verbandsbeschwerderecht überlegt anwenden bzw. nur in Fällen, bei denen sie tatsächlich Handlungsbedarf sehen. Was von bürgerlicher Seite vor allem als Verhinderungspolitik dargestellt wurde, ist nichts anderes als Rechtsstaatlichkeit, in der auch die Interessen der Natur gesetzlich eingehalten werden sollen. Doch die Darstellung der Umweltverbände als grosse Verhinderer zeigt nun bereits zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit Wirkung. Bereits vor einem Monat entschied das Parlament, das VBR bei Wohnbauprojekten zu beschneiden.
Rechtliche Stellung verstärken
Auf internationaler Ebene hat sich die Schweiz in der Aarhus-Konvention, die insgesamt 46 Staaten aus Europa unterschrieben haben, bereits 1998 dazu verpflichtet, die rechtliche Stellung von Naturschutzverbänden zu stärken. Diese Verträge werden damit gebrochen, meint Raimund Rodewald: „Die Beschränkung, die die Urek-S will, ist willkürlich, verfassungswidrig und verletzt internationales Recht.“ Er betont dazu: „Die Aussage hinter dem Vorhaben der Urek-S ist: Es soll in diesem Bereich keine Justiz geben.“
Ein berechtigter Einwand ist, dass es doch auch staatliche Stellen gibt, die klageberechtigt wären, also das Bundesamt für Umwelt, das im Moment dem SVP-Bundesrat Albert Rösti untersteht und unter seinem Druck steht. Rösti hat sich in den letzten Monaten sich mit diversen Entscheiden über geltendes Recht und Volksentscheide gestellt hat – die meisten nicht zugunsten von Natur und Landschaftsschutz.
Nun soll also bei durch Volksentscheide genehmigte Projekte also kein VBR mehr gelten. Beat Rieder, Mitte-Ständerat, sagte dazu: „Mit dem Stromgesetz haben wir der Bevölkerung versprochen, dass diese 16 Projekte auch gebaut werden. Dieses Versprechen müssen wir halten», sagt Rieder. „Mit den Beschwerden wird das Volk an der Nase herumgeführt und der Ausbau der wertvollen Wasserkraft als tragende Säule der Energiewende vereitelt.“ Doch wie so oft bei Volksentscheiden, wird zwar ein Projekt bejaht. Das Volk entscheidet aber nicht über jedes Detail, die Ausarbeitung liegt jeweils bei Parlament und Behörden. Die Umweltverbände haben mit dem VBR kein Vetorecht, sondern achten darauf, dass die geltenden Gesetze eingehalten werden.
„Schluss mit der Verhinderungspolitik!“
Apropos Volksentscheid: Zuletzt wollte die FDP 2008 das Verbandsbeschwerderecht einschränken, nachdem es unter anderem bei einem Neubau des Zürcher Hardturmstadions mehrere Einsprachen gab. Die Initiative „Schluss mit der Verhinderungspolitik!“ scheiterte damals krachend. 66 Prozent der Stimmbevölkerung stellten sich dagegen und bejahten damit das Verbandsbeschwerderecht.
Der damalige Bundesrat Moritz Leuenberger, der die Meinung des Gesamtbundesrats vertrat, sagte in einer Rede vor der Abstimmung, was bei einer Einschränkung auch drohe: „Damit das Umweltrecht eingehalten wird, müsste das Bundesamt für Umwelt bei zahlreichen Projekten selber Beschwerde führen. Sonst laufen wir Gefahr, dass das Umweltrecht konstant verletzt wird. Diese zusätzliche Aufgabe würde dem Staat und damit dem Steuerzahler zusätzlichen Aufwand und damit zusätzliche Kosten verursachen.“
Eine vorauseilende Kraft
Gegenüber der WOZ sprach Michael Bütler, Zürcher Anwalt und Umweltrechtsspezialist. Er betonte, dass das VBR auch ohne Klage bereits eine Wirkung zeigt: „Nicht jede Einsprache im Rahmen des Verbandsbeschwerderechts führt zu einer Verzögerung, sondern oft zur Verbesserung eines Projekts, weil die Fachleute in den Umweltverbänden über ein wertvolles Fachwissen verfügen.“ Er fügt hinzu: „Wenn Projektanten mit Einsprachen rechnen müssen, planen sie sorgfältiger und achten eher darauf, die Gesetze zu berücksichtigen.“ Ohne VBR, so der Rechtsanwalt, wäre die Gefahr grösser, dass Umweltrecht verletzt werde – und dass keine umfassende Interessensabwägung zwischen Schutz- und Nutzungsinteressen stattfinde, wie es die Bundesverfassung vorsehe. Auch Martina Munz, SP-Nationalrätin und Präsidentin von Aqua Viva, findet drastische Worte: „
„Das ist ein Aufruf zum Gesetzesbruch. Wenn niemand Einsprache machen könnte, würden Energieanlagen möglichst günstig gebaut – mit mangelhaften Ausgleichsmassnahmen, zulasten von Landschaft und Biodiversität. Man könnte bauen, was der Teufel verboten hat.“ Raimund Rodewald vom Landschaftsschutz warnt zudem: „Wenn man die Spielregeln aufhebt, sind die Spieler ja trotzdem noch da. Aber die bewährte Schweizer Kompromisspolitik ist nicht mehr möglich.“
Geschichte des Verbandsbeschwerderechts
(rh) Das Verbandsbeschwerderecht in der Schweiz geht auf die 1960er-Jahre zurück, als der Schutz der Umwelt zunehmend an Bedeutung gewann. Es wurde als Teil des Umwelt- und Naturschutzrechts etabliert, um zivilgesellschaftliche Akteure in den Prozess der Rechtsdurchsetzung einzubeziehen. Mit der Einführung des Natur- und Heimatschutzgesetzes im Jahr 1966 erhielten anerkannte Umweltverbände erstmals das Recht, in behördlichen Verfahren gegen umweltschädigende Projekte Einsprache zu erheben und Beschwerde zu führen.
In den folgenden Jahrzehnten wurde das Instrument stetig ausgeweitet. Mit der Revision des Umweltrechts in den 1980er– und 1990er-Jahren gewann das Verbandsbeschwerderecht weiter an Bedeutung. Dies geschah vor dem Hintergrund eines wachsenden Umweltbewusstseins und einer zunehmenden Internationalisierung des Umweltschutzes. Es entwickelte sich zu einem zentralen Kontrollinstrument, um die Einhaltung von Umweltvorschriften sicherzustellen und den Umweltschutz in Bauprojekten durchzusetzen.
Erfolge und Kontroversen:
Das Verbandsbeschwerderecht hat über die Jahre zahlreiche Umweltprojekte massgeblich beeinflusst. Es ermöglichte es Umweltverbänden, Grossprojekte wie den Bau von Autobahnen, Industrieanlagen oder Kraftwerken einer genauen Prüfung zu unterziehen. Dadurch wurden wichtige ökologische Anliegen in den Entscheidungsprozessen der Behörden verankert.
Trotz dieser Erfolge blieb das Verbandsbeschwerderecht nicht unumstritten. Vor allem in den 2000er-Jahren geriet es verstärkt in die Kritik, als Wirtschafts- und Bauverbände Verzögerungen und Kostensteigerungen bei Grossprojekten beklagten. Es wurde der Vorwurf laut, das Verbandsbeschwerderecht werde teilweise aus taktischen Gründen missbraucht, um unliebsame Bauprojekte zu verhindern oder zu verzögern. Diese Debatten führten zu Versuchen, das Verbandsbeschwerderecht einzuschränken, was jedoch immer wieder auf Widerstand stiess.
Ausblick für die Zukunft:
Die Zukunft des Verbandsbeschwerderechts bleibt ungewiss. Auf der einen Seite gibt es Bestrebungen, das Recht zu reformieren oder gar einzuschränken, um die Planung und Umsetzung von Infrastrukturprojekten zu beschleunigen. Es wird argumentiert, dass die Schweiz angesichts globaler Herausforderungen wie der Energiewende und des Klimawandels mehr Flexibilität und Effizienz bei der Umsetzung von Projekten benötige.
Auf der anderen Seite wird das Verbandsbeschwerderecht von Umweltverbänden als unverzichtbares Instrument im Kampf für den Umweltschutz verteidigt. Sie betonen, dass angesichts der zunehmenden Bedrohungen für die Umwelt, wie der Biodiversitätsverlust und der Klimawandel, die Notwendigkeit, umweltpolitische Interessen in Entscheidungen zu integrieren, wichtiger denn je sei.