„Betrügen lohnt sich“ oder was macht Österreich besser?

Vergangene Woche wurde die Einführung einer Sammelklage im Nationalrat diskutiert. Es ist kein neues Instrument und mittlerweile fast in ganz Europa eingeführt, damit sich Konsument:innen besser wehren können. Dass es rechtlich sinnvoll für die Schweiz wäre, weiss auch die Gegnerschaft. Doch es könnte den Wirtschaftsinteressen der Konzerne schaden – deshalb stellen sich die bürgerlichen Parteien dagegen. Was macht Österreich besser als die Schweiz?

2015 war ein schlechtes Jahr für den Autokonzern VW. Dann nämlich wurde der Diesel-Abgasskandal publik. VW hatte bei den Dieselfahrzeugen die Software in der Weise manipuliert, dass diese in den Tests weniger Schadstoffe auswiesen, als schlussendlich auf der Strasse. Weltweit waren mehrere Millionen Autos betroffen und damit auch die Kund:innen geschädigt, die ein Produkt nicht in der Qualität erhielten, wie es ihnen versprochen worden war – von den Schäden für die Umwelt mal abzusehen. Als Konsequenz hatte der weltgrösste Autokonzern Bussen und Gewinnabschöpfungen in Milliardenhöhe zu bezahlen. In vielen Ländern wurde VW durch Umwelt- und Konsumentenschützer verklagt. Beispielsweise musste der Konzern in Österreich 23 Millionen Euro an 10’000 betroffene Käufer von VW-Dieselautos bezahlen.

Ungeschoren

In der Schweiz hingegen kam VW und mit ihr die AMAG beinah ungeschoren davon, obwohl man davon ausgehen muss, dass 175’000 Personen geschädigt sind. Die Stiftung für Konsumentenschutz SKS klagte für 6‘000 getäuschte Autohalter Schadenersatz ein. Das Bundesgericht ging darauf jedoch nicht ein. Der SKS fehle die Klageberechtigung. Das liegt daran, dass es im Zivilrecht der Schweiz das Instrument der Sammelklage nicht gibt. Alle müssten einzeln klagen – auch wenn alle den gleichen Schaden erlitten haben –, doch der Aufwand und das finanzielle Risiko ist oft sehr hoch. Es ist eine klassische David gegen Goliath-Situation. Einzelne klagen nicht gegen die mächtigen Konzerne oder die Kirche, deshalb lassen sie es sein – gerade auch bei geringeren Streitwerten.

In den letzten 30 Jahren kam die Idee der Sammelklage immer wieder auf das parlamentarische Tapet. Bis jetzt konnte man sich nicht durchringen. Zuletzt hat das Parlament vor elf Jahren den Bundesrat damit beauftragt, eine gesetzliche Grundlage für einen kollektiven Rechtsschutz zu ermöglichen. Jahrelang wurde das Geschäft nun verschleppt, immer wieder zusätzliche Anfragen der Rechtskommission des Nationalrats getätigt. Im April dieses Jahres empfahl die Rk-N dann mit 14 zu 10 ein Nichteintreten auf die Vorlage des Bundesrats. Nun wurde diese Woche im Nationalrat darüber diskutiert. Diese möchte, dass Verbände zukünftig Ersatzansprüche für eine Vielzahl von Betroffenen einklagen dürfen. Die Bedingung dafür ist aber, dass diese Organisationen schon über zwölf Monate bestehen müssen und nicht gewinnorientiert sein dürfen.

Nadine Masshardt, Präsidentin des Konsumentenschutzes, sprach gegenüber der NZZ von einer „gravierenden Rechtslücke bei Massenschäden“ in der Schweiz. „Widerrechtlich geschädigte Personen müssen ihre Rechte endlich auch in der Schweiz gemeinsam durchsetzen können.“ Sie verweist auch auf die EU, wo der kollektive Rechtsschutz in den letzten Jahren vielerorts massgeblich gestärkt worden sei.  

Wirtschaftsverbände gehen auf die Barrikaden

Die Gegnerschaft von Sammelklagen sind, es ist nicht ganz überraschend, die Wirtschaftsverbände. Am stärksten warnen Swissholdings und Economiesuisse vor der Einführung des kollektiven Rechtsschutzes und damit von ihnen prognostizierten „Klageexzessen“. Sie befürchten eine Amerikanisierung des Schweizer Rechtssystems, wo spezialisierte Kanzleien überall eine Schadensersatzforderung wittern und vorantreiben, ohne ein Risiko zu tragen.

«Die Einführung von Sammelklagen fördert die Entstehung einer professionellen Klageindustrie, die hohe Vergleiche und Gewinnbeteiligungen anstrebt und die Rechtskultur eines Landes grundlegend verändert», sagt Denise Laufer vom Verband Swissholdings. Ein wesentlicher Treiber dafür sei die Prozessfinanzierung durch Dritte, bei der Investoren Klagen finanzieren und so die Bereitschaft erhöhen, Klagen anzustrengen, ohne die eigentlichen Risiken zu tragen. Barbara Steinemann von der SVP sprach in einer Diskussion von SRF diese Woche darüber: „Mit der Amerikanisierung des Systems meinen wir, dass eine ganze Klageindustrie einen Verband, natürlich den Konsumentenschutzverband, vorschieben können und dann in der Regel mit reichen Investoren einen Schauprozess androhen oder initiieren können.“ Die Sammelklage sei ein Instrument „der Erpressung, der Nötigung“, so die SVP-Nationalrätin, der einen Vergleich notwendig mache und den Konsumenten am Schluss nichts bringe. „Das möchten wir den Firmen, dem Wirtschaftsstandort nicht antun, obwohl das Grundanliegen, dass Konsumentinnen und Konsumenten, die geschädigt wurden, zu ihrem Recht kommen müssen, unbestritten ist.“

Zu stark geschützte Wirtschaft?

Also eine rechtliche Lücke nicht schliessen, weil der Wirtschaftsstandort darunter leiden könnte? Sammelklagen als Erpressung zu verstehen ist eine Deutungsweise. Eine andere ist diejenige, dass endlich den Konsumentinnen zustehendes Recht eingeklagt werden kann. Die ungleichen Kräfteverhältnisse vor der Justiz würden sich ein wenig korrigieren, hin zu den einfachen Bürgern. Dass die Mächtigen, in diesem Fall die Konzerne, dadurch mehr aufpassen müssten, wie stark sie das Recht jeweils zu ihren Gunsten biegen – das wollen sie offensichtlich nicht.

Befürworter von Sammelklagen begegnen Befürchtungen wie denen Steinemanns zudem damit, dass der grosse Erfolg der Schadenersatzklagen in den USA auf die Eigenheiten des dortigen Rechtssystems zurückzuführen sei – die Jurys etwa oder die kommerzielle Rechtsdurchsetzung, die sich grundlegend vom europäischen Ansatz und von jenem des Bundesrats unterscheide. So lege das europäische Rechtssystem viel stärker Wert auf den Schutz von Rechten und die Förderung von Vergleichen, um langwierige und teure Verfahren zu verhindern. Zudem scheint es geradezu eine absurde Vorstellung, dass sich der Konsumentenschutz vor den Karren reicher Anwaltskanzleien spannen lässt für Klagen, die nicht wirklich etwas nützen könnten. Die NZZ betont, dass sich in den letzten Jahren auch in den europäischen Staaten amerikanische Kanzleien und Prozessfinanzierer angesiedelt haben und in Rechtsstreitigkeiten in den Bereichen Klima und Datenschutz investiert haben.

So haben in diversen europäischen Staaten, die den kollektiven Rechtsschutz ausgebaut haben, die Anzahl der Sammelklagen stark zugenommen. In Grossbritannien haben sich die offenen Rechtsforderungen durch Sammelklagen zwischen 2016 und 2023 nahezu verzwölffacht. In Europa verdoppelten sich die Sammelklagen innerhalb von vier Jahren gemäss dem European Monitoring Report auf 133 Sammelklagen. Economiesuisse spricht dabei von „negativen Erfahrungen“ für die Wirtschaft im Ausland, doch negativ für wen? Eine Zunahme an Prozessen ist auch ein Beweis dafür, dass mehr Konsument:innen klagen können und stärker zu ihrem Recht kommen wollen.

Milder Vorschlag des Bundesrats

Für die Wirtschaftsverbände liefern diese Daten den Nachweis, dass sich die Schweiz mit der Einführung von Sammelklagen auch in diese Richtung bewegt. „Es besteht die Gefahr, dass eine Rechtskultur ermöglicht wird, die weniger auf Ausgleich und Konsens als auf Konfrontation und finanzielle Interessen von Prozessfinanzierern ausgerichtet ist“, sagt Denise Laufer gegenüber der NZZ. Die Folge seien gemäss ihr dann überlastete Gerichte, steigende Versicherungskosten und schwer kalkulierbare Risiken für Unternehmen.

Der Vorschlag des Bundesrats ist jedoch eine milde Variante. Gemäss diesem dürften nur Geschädigte in die Sammelklage eingebunden werden, die dazu ausdrücklich ihre Einwilligung gegeben haben (Opt-in-Prinzip). Die starke Zunahme an kollektiven Verfahren hat vor allem beim Opt-out-Prinzip stattgefunden. Dazu zählen Verfahren, bei denen alle Geschädigten Teil der Sammelklage sind, ausser sie wollen das ausdrücklich nicht. Für Nadine Masshardt ist das eine klare Angstmacherei der Konzerne. Die Hürden für die Klagen seien sehr hoch, dass es zu amerikanischen Verhältnissen kommt, sei ausgeschlossen.

Die Sammelklage ist zudem kein neues Gesetz. Es ist vielmehr ein Mittel, um bestehendes Recht durchzusetzen. Auch heute ist es noch so, das zeigt der VW-Skandal deutlich: Betrügen lohnt sich. Wenn niemand da ist, der Schadensersatz einklagen kann oder die notwendigen Mittel dazu hat, bringen die Gesetze nichts.  Auch sollten Sammelklagen eben zur Entlastung der Justiz beitragen, indem einer statt hundert Prozesse geführt werden müssen.

20 Jahren Erfahrung in Österreich

Seit über zwanzig Jahren gibt es in Österreich ein Mittel der Sammelklage, mit dem Konsumenten gegen Firmen gemeinsam vorgehen können, von denen sie geschädigt wurden. Ende der Neunziger erkrankten über hundert österreichische Touristen in einem Clubhotel in der Türkei. Doch ein echtes, auf Leistung gerichtetes kollektives Rechtsschutzinstrument fehlte. Das rief den Verein für Konsumenteninformation (VKI) auf den Plan. Dessen Obmann Peter Kolba fand dazu eine Lücke in der Zivilprozessordnung. Er liess sich die Ansprüche aller Urlauber, die das wollten, abtreten, machte sie in einer Klage gegen die Hotelbetreiber gebündelt geltend und schaffte es, Prozessfinanzierer ins Boot zu holen, die bei Unterliegen des Klägers die Verfahrenskosten schultern würden.

Die „Sammelklage österreichischer Prägung“ war geboren. Nach einigen Gerichtsverfahren wollte der Reiseveranstalter diese Verfahren vergleichen und die Leute erhielten 70 Prozent ihrer Schäden ersetzt. Als ein Jahr später wieder eine Brechfallepidemie im gleichen Club wegen verseuchtem Trinkwasser ausbrach, sammelte der VKI wieder die Klagenden und gingen zum Reiseveranstalter, weil sie Schadenersatz wollte. Peter Kolba sagte in einem Interview 2022 im SRF im Kassensturz dazu: „Der Reiseveranstalter hatte gelernt. Er zahlte Geld – ohne Gericht.“

In den zwanzig Jahren danach stemmten Kolba und sein VKI zwanzig weitere Sammelklagen. Etwa gegen den mächtigen Finanzdienstleister AWB, der Finanzprodukte verkaufte, ohne genügend über die Risiken zu informieren. Oder gegen Fluggesellschaften wie Sky Europe, die Passagiere nach annullierten Flügen nicht genügend entschädigen wollten. Die meisten Klagen endeten mit einem Vergleich, die Geschädigten erhielten Schadenersatz. Eine Sammelklage führte dazu, dass das ursprüngliche Problem behoben wird, weil es für das Unternehmen zu teuer wäre, sich ständig von Sammelklagen belästigen zu lassen. Das Beispiel Österreich zeigt, dass mit dem Instrument der Sammelklage die rechtliche Position von Konsument:innen in erheblichem Masse gestärkt wird.

Peter Kolba resümiert auch: „Die Politik wollte und will eine Sammelklage nicht, wobei man sagen muss: die Wirtschaft in Europa will keine effektiven Sammelklagen und die Politik beugt sich diesem Wunsch.“

One thought on “„Betrügen lohnt sich“ oder was macht Österreich besser?

  1. Die Argumentation von Barbara Steinemann (SVP) ist widersprüchlich und heuchlerisch: KonsumentInnen können ohne Sammelklagen i.d.R. nicht zu ihrem Recht kommen. Denn die meisten können sich die Kostenvorschüsse und das Kostenrisiko bei Zivilklagen gegen Konzerne wie VW nicht leisten, oder erreichen mit ihrer Forderung die Streitwertgrenze nicht (beim Bundesgericht mindestens 30’000 Fr.) und dürfen dort gar nicht klagen.

    Die VW-Verantwortlichen müssten in allen betroffenen Ländern strafrechtlich wegen gewerbsmässigem Betrug vor Gericht stehen (manipulierte Abgas-Software, Wertverlust Fahrzeug, bewusste Schädigung aller betroffenen VW-KäuferInnen).
    Dass sie in der Schweiz auch zivilrechtlich unbehelligt bleiben (sofern nicht jeder Einzelne in eigenem Namen klagt), obwohl allein hier 175’000 (!) Leute geschädigt sind, zeigt, dass die Politik Straftaten von Konzernen bewusst schützt. Stellt also das deren Geschäftsinteresse über das staatliche Strafverfolgungsinteresse und über das private Rechtsschutzinteresse. Diese Bevorzugung ist verfassungs- und rechtsstaatswidrig.

    Jeder, der SVP wählt und VW-Betroffener ist, weiss nun, dass die SVP ihre eigenen Wähler verrät. Und alle anderen VW-Opfer auch. Und Barbara Steinemann positioniert sich ausdrücklich zugunsten der VW-Betrüger und gegen die VW-Opfer und gegen die Bundesverfassung. Das ist nicht nur schäbig, sondern offenbart ihr verwerfliches Verständnis von Rechtsstaatlichkeit.

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