Die Schweizer Justiz und die Digitalisierung

Die Digitalisierung hat in nahezu allen Lebensbereichen Einzug gehalten, und auch die Justiz bleibt von diesem Wandel nicht unberührt. In vielen Ländern werden Gerichtsprozesse zunehmend durch technologische Innovationen unterstützt, wobei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) eine besondere Rolle spielt. Während Nationen wie Singapur, Kanada, Grossbritannien und Österreich als Vorreiter gelten, zeigen aktuelle Studien, dass es in Europa, insbesondere in Deutschland und der Schweiz, noch erheblichen Aufholbedarf gibt.

Eine wegweisende Untersuchung hierzu ist die internationale Studie „Die Zukunft digitaler Justiz“, die von der Bucerius Law School, der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) und dem Legal Tech Verband Deutschland (LTV) veröffentlicht wurde. Diese Studie zeigt Deutschlands Rückstand auf, liefert aber auch konkrete Lösungsvorschläge, die für die Schweiz und ihre Nachbarländer von Bedeutung sein könnten. Hier werden die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung der Justiz, insbesondere im europäischen und schweizerischen Kontext, beleuchtet. Dabei wird auch ein Blick auf die Vorreiterländer und die möglichen Entwicklungen in den nächsten 10 bis 20 Jahren geworfen.

Ein globaler Trend

Die Justizsysteme weltweit stehen vor der Herausforderung, die ständig wachsenden Mengen an Daten zu bewältigen und die Effizienz der Gerichtsprozesse zu steigern. Dies ist besonders wichtig in Zeiten, in denen Gerichte mit einer Überlastung an Fällen und einem hohen Arbeitsaufwand konfrontiert sind. Digitalisierung und der Einsatz von Technologien wie KI bieten hier erhebliche Chancen. Die Vorteile der Digitalisierung der Justiz:

  • Automatisierung von Verwaltungsprozessen: Durch digitale Technologien können Routineaufgaben wie die Verwaltung von Akten, das Sortieren von Dokumenten und die Terminplanung effizienter gestaltet werden. In der Schweiz sowie in anderen europäischen Ländern konzentrieren sich viele Digitalisierungsinitiativen auf genau diese Prozesse. Ein KI-gestütztes System kann in Sekunden tausende von Dokumenten durchsehen, was manuell Wochen dauern könnte.
  • Schnellere Gerichtsverfahren: Ein entscheidender Vorteil der Digitalisierung ist die Beschleunigung von Gerichtsverfahren. Elektronische Akten, automatisierte Prozessschritte und der Einsatz von Videokonferenzen zur Durchführung von Anhörungen verkürzen die Zeit bis zur Urteilsfindung erheblich. In Ländern wie Estland, einem digitalen Vorreiter in Europa, werden bereits „e-Court“-Systeme erfolgreich genutzt, um einfache Streitigkeiten ohne physische Anwesenheit der Parteien zu lösen.
  • Kostenreduktion: Die Effizienzsteigerung durch digitale Technologien führt zu einer Reduktion der Verfahrenskosten. Dies ist ein wesentlicher Vorteil, insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen. Digitalisierte Prozesse könnten auch die Notwendigkeit teurer juristischer Beratung in Standardfällen reduzieren, was den Zugang zur Justiz verbessert.
  • Transparenz und Nachvollziehbarkeit: Digitale Systeme können Prozesse transparent und nachvollziehbar machen. Durch die vollständige Erfassung digitaler Schritte und Entscheidungen wird es einfacher, Entscheidungen zu überprüfen und Missbrauch oder Fehler zu identifizieren.

Herausforderungen und Risiken

Neben den zahlreichen Vorteilen gibt es auch Herausforderungen und Risiken, die bei der Digitalisierung der Justiz beachtet werden müssen.

Datenschutz und Sicherheit: Mit der zunehmenden Digitalisierung entsteht die Notwendigkeit, hochsensible Daten sicher zu verwalten. Der Schutz dieser Daten ist eine der grössten Herausforderungen, insbesondere in Justizsystemen, in denen personenbezogene Daten und sensible Informationen eine zentrale Rolle spielen. Es ist entscheidend, dass digitale Justizsysteme gegen Cyberangriffe abgesichert werden, um das Vertrauen der Bürger in das Rechtssystem nicht zu untergraben.

Fehlende rechtliche Rahmenbedingungen: Eine der grössten Hürden in vielen europäischen Ländern, einschliesslich der Schweiz, ist das Fehlen klarer gesetzlicher Regelungen für den Einsatz von digitalen Technologien und KI in der Justiz. Während Länder wie Singapur oder Kanada fortschrittliche Regulierungen für den Einsatz von KI entwickelt haben, hinken europäische Länder wie Deutschland hinterher, was auch in der Studie „Die Zukunft digitaler Justiz“ festgestellt wurde. Für die Schweiz bedeutet dies, dass gesetzgeberische Massnahmen notwendig sind, um den Einsatz von KI und digitalen Systemen zu regulieren und ethische Bedenken zu adressieren.

Ethische Fragen: Der Einsatz von KI in der Justiz wirft wichtige ethische Fragen auf. Kann eine Maschine faire und ausgewogene Urteile fällen? Wie transparent und nachvollziehbar sind die Entscheidungen einer KI? In Ländern wie den USA wird bereits KI genutzt, um das Rückfallrisiko von Straftätern zu berechnen, was jedoch zu einer Verstärkung bestehender Vorurteile führen kann. Solche Probleme müssen sorgfältig abgewogen werden, bevor KI umfassend in der Justiz eingesetzt wird.

Mangel an technologischer Kompetenz: In vielen Justizsystemen, insbesondere in traditionelleren Ländern wie Deutschland und der Schweiz, fehlt es noch an der notwendigen technischen Kompetenz. Richter, Anwälte und andere Justizakteure müssen umfassend geschult werden, um die neuen Technologien zu verstehen und verantwortungsvoll einsetzen zu können.

Der Artikel «Düstere Zeiten für die Digitalisierung» der Republik  wirft ein Licht auf die strukturellen und politischen Hürden, die nicht nur die Digitalisierung der Justiz, sondern auch andere digitalpolitische Projekte betreffen. Diese Hindernisse könnten die Umsetzung von Projekten wie Justitia 4.0, welches eine vollständige Digitalisierung des Justizsystems anstrebt, erheblich verzögern.

Laut der Republik stehen massive Herausforderungen bevor, wie etwa die erneute Revision des Nachrichtendienstgesetzes, das tiefgreifende Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger vorsieht. Gleichzeitig muss sich das Schweizer Parlament mit geopolitischen Fragen, wie der Rolle von Unternehmen wie Huawei in der digitalen Lieferkette, auseinandersetzen. Auch die Regulierung von Künstlicher Intelligenz ist ein ungelöstes Thema, das dringend Aufmerksamkeit erfordert. Anders als in Deutschland, wo ein eigenes Bundesamt für Digitalisierung geschaffen wurde, ist die Verantwortung in der Schweiz über verschiedene politische Bereiche fragmentiert. Es fehlt an einer kohärenten nationalen Digitalisierungsstrategie, was zu Kompetenzstreitigkeiten und ineffizienten Prozessen führt.

Die Republik weist ausserdem auf ein fundamentales strukturelles Problem hin: Im Gegensatz zu Deutschland, wo ein eigenes Bundesamt für Digitalisierung existiert, mangelt es in der Schweiz an einer zentralen Koordination. Jedes digitalpolitische Dossier untersteht einem anderen politischen Verantwortungsbereich, was zu Kompetenzstreitigkeiten und einer fragmentierten Herangehensweise führt. Dies hat zur Folge, dass es keine kohärente Strategie gibt, um Projekte wie die E-ID, das E-Voting oder die Public Cloud im nationalen Kontext voranzutreiben.

In ihrem Artikel stellt die Republik zudem ein Worst-Case-Szenario vor, das für die kommende Legislatur droht: Aufgrund des Spardrucks und einer bürgerlich dominierten Politik könnte die Schweiz weiterhin auf Public-Private-Partnerships setzen, ohne die problematischen Aspekte der Digitalisierung ausreichend zu berücksichtigen. Diese Entwicklung könnte gravierende Folgen für die digitalen Bürgerrechte haben, insbesondere wenn die Schweiz den von der EU geplanten „AI Act“ nicht adaptieren und stattdessen fragmentierte Regeln für unterschiedliche Sektoren einführen würde. Laut Republik würde dies zu mehr Bürokratie und Rechtsunsicherheit führen.

Zudem warnt die Publikation davor, dass das Projekt einer eigenen Swiss Government Cloud für schützenswerte Daten des Bundes, der Kantone und internationaler Organisationen aufgrund fehlender finanzieller Mittel ins Stocken geraten könnte. Die Ambitionen für digitale Souveränität würden damit erheblich geschwächt. In ähnlicher Weise nennt die Republik das Desaster um das Jugendschutzgesetz als Beispiel dafür, wie politische Fehlentscheidungen im Bereich der Digitalisierung zu weitreichenden negativen Konsequenzen führen können.

Auch warnt das Medium vor einer möglichen Fortsetzung des Law-and-Order-Kurses, bei dem die technischen Überwachungsmöglichkeiten für das Bundesamt für Polizei weiter ausgebaut werden könnten, ohne dass dabei angemessene Datenschutzmassnahmen implementiert werden. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen stellt die Republik in Aussicht, dass das Beschaffungswesen des Bundes weiterhin vom Spardruck geprägt sein könnte, was die Anforderungen an Datenschutz und Cybersicherheit bei öffentlichen Aufträgen gefährlich schwächen könnte.

Letztlich bleibe es, an den politischen Entscheidungsträgern, insbesondere bei der FDP und der Mitte, ob sie aus der Vergangenheit lernen und die notwendigen Ressourcen bereitstellen, um eine starke digitale Infrastruktur und die interne IT-Kompetenz der Bundesverwaltung zu fördern. Sollte dies gelingen, könnte das Worst-Case-Szenario, wie es die Republik beschreibt, zumindest abgeschwächt werden.

Die Schweiz: Status quo und mögliche Entwicklungen

Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen Ländern wie Estland oder Grossbritannien einen eher zurückhaltenden Ansatz in Bezug auf die Digitalisierung der Justiz gewählt. Zwar wurden erste Schritte unternommen, um digitale Prozesse in der Verwaltung zu etablieren, doch der Einsatz von KI in Gerichtsverfahren ist noch in einer sehr frühen Phase. Derzeit wird in der Schweiz vor allem in der Automatisierung von Verwaltungsprozessen und der Digitalisierung von Gerichtsakten investiert. Diese Entwicklungen tragen zwar zur Effizienzsteigerung bei, doch es gibt noch keine umfassenden Initiativen, KI für prädiktive Analysen oder die Unterstützung bei der Urteilsfindung einzusetzen.

Die Zukunft der Digitalisierung in der Schweizer Justiz könnte jedoch durch internationale Entwicklungen beeinflusst werden. Vorbilder wie Estland oder Singapur zeigen, dass der Einsatz von KI und digitalen Technologien nicht nur die Effizienz steigern, sondern auch den Zugang zur Justiz verbessern kann. Ein pragmatischer und schrittweiser Ansatz, wie er in der Schweiz üblich ist, könnte bedeuten, dass die Schweiz in den nächsten 10 bis 20 Jahren KI-basierte Systeme testet und schrittweise in die Gerichtsprozesse integriert.

Nachbarländer: Ein gemischtes Bild

Auch in den Nachbarländern der Schweiz gibt es unterschiedliche Ansätze zur Digitalisierung der Justiz. Deutschland steht, wie bereits erwähnt, vor erheblichen Herausforderungen. Die internationale Studie „Die Zukunft digitaler Justiz“ hebt Deutschlands Rückstand bei der Digitalisierung hervor, bietet jedoch auch konkrete Lösungsvorschläge. Dazu gehört die Einführung von „Legal Tech“-Anwendungen, die Anwälte und Richter bei der Recherche und Analyse unterstützen sollen. Frankreich und Grossbritannien sind bereits weiter und testen KI in der Analyse juristischer Dokumente und in prädiktiven Modellen zur Urteilsfindung.

Ein Blick in die Zukunft

Die Digitalisierung der Justiz in der Schweiz und ihren Nachbarländern wird in den nächsten 10 bis 20 Jahren eine zentrale Rolle spielen. Länder wie Estland und Grossbritannien dienen als Vorbilder dafür, wie technologische Innovationen in der Justiz eingeführt werden können, um Effizienz und Zugänglichkeit zu steigern. Die Schweiz, die traditionell auf pragmatische und konsensorientierte Ansätze setzt, wird diesen Trend vermutlich schrittweise adaptieren. Dabei müssen jedoch die rechtlichen, ethischen und gesellschaftlichen Implikationen sorgfältig geprüft werden.

Es ist entscheidend, dass die Gesetzgeber proaktiv Rahmenbedingungen schaffen, die den Einsatz von KI und anderen digitalen Technologien in der Justiz regeln. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Justiz im digitalen Zeitalter nicht nur effizienter, sondern auch gerechter wird.

 

«Wir sehen die Risiken und reagieren kaum»

«Mit dem Fortschritt der Informationstechnologien sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir die Risiken vollkommen erkennen und doch kaum darauf reagieren», erklärt Sophie Weerts. Im Interview lotet die Professorin für öffentliches Recht an der Universität Lausanne die Herausforderungen der künstlichen Intelligenz (KI) für Justiz und Verwaltung aus. Interview von Kenza Kebaili, Bundesverwaltungsgericht.

Sophie Weerts, Sie betreiben Forschung zur Wirkung der immer digitalisierteren Gesellschaft auf das öffentliche Recht. Wo stehen wir heute?

Die Situation ist komplex, weil Recht und Technologie in einer Wechselwirkung stehen, für deren Beschreibung drei Ansätze bestehen. Der erste ist an und für sich schon komplex. Klassisch wird davon ausgegangen, dass das Recht die Situationen des Lebens regeln soll, also auch die Technologien, die wir im Alltag anwenden. Doch wird das Verhältnis zwischen Recht und Technologie seit den 1990er Jahren und der Einführung von Internet durch den Diskurs geprägt, die digitale unterscheide sich von der analogen Welt. Daher sei das Recht, das unser analoges Leben regelt, nicht auf die digitale Welt anwendbar. In diesem Umfeld erstaunt es nicht, dass die digitale Frage, abgesehen von den spezifischen Themen des Datenschutzes und der Cyberkriminalität, in unseren Rechtssystemen kaum geregelt wurde. Zudem wurde stark auf Soft Law gesetzt, wie die Ethikkodizes, deren Wirksamkeit aber wegen ihres nichtzwingenden Charakters beschränkt ist.

Gibt es andere Ansätze?

Ja. Der zweite Ansatz, um das Verhältnis zwischen Recht und Technologie zu analysieren, weist eine besonders beunruhigende Komponente auf. Gefragt wird nicht mehr nach einer Regulierung der Technologie durch das Recht sondern nach einer Regulierung durch die Technologie. Anders gesagt: Wir befinden uns in einer Phase, in der die Technologie das Recht ablösen und sich normativ auf das Individuum auswirken kann. Demonstrationen werden nicht verboten, doch werden sie gefilmt, weshalb gewisse Personen nicht mehr daran teilnehmen, weil sie befürchten, abgestempelt zu werden. Die Spezialistinnen und Spezialisten sprechen von einem «chilling effect», der die Menschen dazu bringt, freiwillig auf gewisse Individualrechte zu verzichten. Der dritte Aspekt im Verhältnis zwischen Recht und Technologie überrascht am meisten. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir Teile unserer Rechtssysteme so anpassen, dass sie mit dem digitalen Umfeld kompatibel werden.

Überrascht Sie das Tempo bzw. die Art der digitalen Entwicklung?

Was mir besonders auffällt, ist einerseits, dass kaum eine Debatte über den technologischen Fortschritt geführt wird, und andererseits, dass wir offenbar mit der Logik eines kollektiven Experiments einverstanden sind oder uns damit abfinden. Lassen Sie mich erklären. Als Gesellschaft haben wir bereits Erfahrung mit Technologien, die uns an die Grenzen des moralisch Zulässigen gebracht haben. Denken wir nur an die Nukleartechnik, an Nagasaki und Hiroshima. Mit den Fortschritten bei den Informationstechnologien sind wir an einem dieser Punkte angekommen, an dem wir die Risiken vollkommen erkennen und doch kaum darauf reagieren. Andererseits sind die wichtigsten Akteure, die diese Fortschritte vorantreiben, nicht öffentliche oder halböffentliche Institutionen sondern Megakonzerne, die sich im Besitz einer Handvoll Personen, hauptsächlich in den USA und in China, befinden.

Kann das problematisch werden?

Ja, denn diese Konzerne haben ein ganz bestimmtes Geschäftsmodell. Sie machen Geld, indem sie unsere Daten verkaufen, die sie immer, wenn wir online sind, sammeln, um uns mit Werbung zu überschütten. In dieser Situation ist es verständlich, dass die Gesetzgeber hilflos sind. Aber diesen Zustand der Fassungslosigkeit müssen wir überwinden, wir müssen debattieren und mit dem Lieblingsinstrument des Rechtsstaats, mit dem Recht, Richtungsentscheide treffen. Diesbezüglich sind die Anstrengungen der Europäischen Union zu begrüssen, weil sie Reglementierungen beschliesst, auch wenn diese nicht perfekt sind. Damit regt sie andere an, sich ernsthaft mit der Frage auseinander zu setzen.

Wird die Digitalisierung bzw. die künstliche Intelligenz im (revidierten) Datenschutzgesetz hinreichend berücksichtigt?

Die Reglementierung des Datenschutzes – auf internationaler Ebene mit der Konvention 108+ des Europarats, auf Bundes- und Kantonsebene mit den Datenschutzgesetzen – ist «technologieneutral» konzipiert. Sie ist also auf alle Technologiearten anwendbar. Dieser Ansatz ist bestechend, weil damit das gesamte Spektrum der Informationstechnologien ungeachtet des technischen Entwicklungsstands abgedeckt wird. Doch beschränkt sich die Frage des individuellen Rechtsschutzes nicht auf den Schutz der personenbezogenen Daten. Einerseits funktionieren die KI-Technologien auch mit nicht-personenbezogenen Daten, weshalb für sie möglicherweise eine eigene Rechtsordnung erforderlich ist. Andererseits werfen diese Technologien neue Fragen auf: zu unserem Verständnis von Diskriminierung oder auch zur Beweislast für die Haftung von Entwicklern und Usern, die oft nicht die Endnutzer/innen der Technologie sind.

Und sind die Staaten aktiv?

Die Europäische Union hat einen Gesetzgebungsprozess eingeleitet, um die Vermarktung der KI-Systeme zu regeln (KI-Gesetz), aber auch um eine neue Rechtsordnung für die Haftung bei der Nutzung von KI-Systemen festzulegen. Zudem arbeitet der Europarat an einer neuen Konvention über die KI, an der sich die Schweiz äusserst aktiv beteiligt.

Welche juristischen Arbeiten können schon jetzt oder könnten in Zukunft von der KI übernommen werden?

Die Recherchierarbeiten in den Rechtsquellen wird durch die Informationstechnologien stark vereinfacht. Mit der Einführung des überwachten und unüberwachten maschinellen Lernens wurde die digitale Suche in den Rechtsquellen schneller und präziser. Damit lassen sich auch Dienstleistungen mit fixfertigen Rechtslösungen bereitstellen wie etwa Vertragsentwürfe. Daraus ist mit LegalTech eine von Grund auf neue Wirtschaftsbranche entstanden. Noch weiter geht das tiefe Lernen (Deep Learning). In Kolumbien liegen bereits zwei Gerichtsurteile vor, für die ChatGPT als Entscheidungshilfe herangezogen wurde. Dies wurde von Fachjuristen für neue Technologien breit kritisiert. Es reicht ja nicht, die Technologie, also die Maschine zu haben, es braucht auch den Treibstoff, um sie laufen zu lassen. Und hier kommen die Daten ins Spiel. Im vorliegenden Fall gibt es keine Informationen darüber, woher diese Daten stammen und wie sie verarbeitet wurden. Es bedingt ja auch, dass die Rechtsquellen in einem Format abgespeichert sind, das die Maschine lesen kann.

Was halten Sie von Justitia 4.0?

Es ist ein ehrgeiziges Projekt, denn die Justiz ist ein ganz eigenes Umfeld, das besonders sensibel ist. Wegen der Unabhängigkeit der Justiz von den anderen Staatsorganen weist sie ihre ganz eigene administrative Organisation auf. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Digitalisierung hier am wenigsten weit fortgeschritten ist. Der digitale Wandel der zentralen Staatsdienste wurde viel früher in Angriff genommen. Möglicherweise gab es von beiden Seiten Widerstand, die Justiz auf den Digitalisierungspfad zu bringen. Ich kenne das Projekt nicht im Einzelnen, kann mir aber vorstellen, dass die Herausforderungen technischer und menschlicher Art sind. Technisch, weil sich ein solches Projekt in eine Organisation einfügen muss, die sich technologisch wohl eher dezentral entwickelt hat. Menschlich, weil Veränderungen für eine Organisation immer eine Herausforderung darstellen. Die betroffenen Menschen müssen sich an ein neues Arbeitsumfeld und an neue Arbeitsformen gewöhnen. Das braucht Zeit, und ein solcher Umbruch muss von der Organisation begleitet werden.

«Update Schweiz», eine kleine Gruppe, will eine Abstimmung über eine neue Bundesverfassung bewirken, gerade auch weil unser Land für die Digitalisierung nicht fit sei. Was halten Sie davon?

Eine solche Initiative hat den Vorteil, dass sie das Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und digitalem Wandel auf die öffentliche Agenda setzt. Ich habe den Initiativtext selbst nicht gelesen und reagiere nur aufgrund der Medienberichterstattung, muss aber schon sagen, dass ich sehr skeptisch bin, ob es dazu wirklich eine Totalrevision der Bundesverfassung braucht. Wenn die Idee ist, einzelne Verfassungsartikel so zu ergänzen, dass den Menschen auf digitaler Ebene grössere Individualrechte zugestanden werden oder den Organen des Bundes ermöglicht wird, Informationstechnologien zu verwenden, sehe ich den Bedarf einer Totalrevision nicht. Vielmehr könnten gezielte Änderungen am aktuellen Verfassungstext vorgeschlagen werden. Wenn die Idee hinter einer Totalrevision aber ist, unser Verständnis des Rechts zu verändern und es beispielsweise «agiler» zu machen, wie dies in einem antijuristischen neoliberalen Diskurs heisst, so bin ich dagegen, denn dies würde die Demokratie direkt gefährden.

Wie sieht die Justiz und Verwaltung der Zukunft aus?

Schwer zu sagen! Zurzeit befinden wir uns in einem Trend der ständigen Vermehrung des Digitalen. Mit jedem technologischen Fortschritt wurden Projekte wie «E-Government», «Digital Government» und «Smart Government» in dichter Folge eingeführt: zuerst PCs an jedem Arbeitsplatz, dann Nutzer-Portale für den Informationszugriff und dann die Digitalisierung der Papierdokumente. Danach wurden die elektronischen Schalter entwickelt, um Online-Formulare bereitzustellen, teils auch die Kommunikation mit den Ämtern zu ermöglichen, ganz einfach vom Handy aus. Jetzt befinden wir uns in der Phase der intelligenten Objekte, der Sensoren und Algorithmen. Die Technologie wird immer diskreter, ist aber omnipräsent. Die Quantencomputer und Deep-Learning-Programme mit neuronalen Netzen zur Text- und Quelltext-Produktion werden wahrscheinlich eine neue Phase der digitalen Transformation in der Justiz und der öffentlichen Verwaltung einläuten, in der den Nutzerinnen und Nutzern immer personalisierter Dienste angeboten werden.

Wie wird Künstliche Intelligenz die Justiz verändern?

Das Thema ist hochaktuell und von enormer Bedeutung. KI hat das Potenzial, das Justizsystem auf vielfältige Weise zu transformieren.Ein Überblick über die wichtigsten Aspekte, wie KI die Justiz verändern wird:

  • Automatisierung von Verwaltungsprozessen
    Einer der unmittelbarsten und offensichtlichsten Anwendungsfälle für KI in der Justiz ist die Automatisierung von Routineaufgaben. Dazu gehören das Sortieren und Verwalten von Dokumenten, die Überprüfung von Akten und die Planung von Gerichtsterminen. KI-basierte Systeme können grosse Mengen an Daten schneller und präziser als Menschen verarbeiten, was zu einer erheblichen Effizienzsteigerung führen kann.
  • Prädiktive Analysen und Risikobewertungen
    In den USA und einigen europäischen Ländern werden bereits KI-gestützte Systeme eingesetzt, um prädiktive Analysen durchzuführen. Diese Systeme bewerten beispielsweise das Rückfallrisiko eines Angeklagten oder die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Entscheidung angefochten wird. Solche Systeme basieren auf der Analyse historischer Daten und können den Richtern als Entscheidungshilfe dienen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass diese Systeme bestehende Vorurteile verstärken, wenn die zugrunde liegenden Daten verzerrt sind.
  • Unterstützung bei der Urteilsfindung
    In einigen Ländern gibt es Bestrebungen, KI als Hilfsmittel bei der Urteilsfindung einzusetzen. KI könnte helfen, frühere Urteile zu analysieren und Muster zu erkennen, die für den aktuellen Fall relevant sein könnten. Diese „Urteilsassistenten“ könnten insbesondere in komplexen Fällen wertvolle Hinweise geben. Hier stellt sich jedoch die ethische Frage, inwieweit der menschliche Richter sich auf die KI verlassen sollte und wie transparent diese Entscheidungen sind.
  • Effizienzsteigerung und Kostenreduktion
    Durch den Einsatz von KI könnten Gerichtsverfahren schneller und kostengünstiger abgewickelt werden. Dies könnte dazu beitragen, die Überlastung der Gerichte zu verringern und den Zugang zur Justiz zu verbessern. Besonders in Fällen mit geringem Streitwert oder in Routineangelegenheiten könnte KI eine wichtige Rolle spielen, indem sie Prozesse beschleunigt und menschliche Ressourcen schont.
  • Neue Herausforderungen für den Datenschutz
    Mit der verstärkten Nutzung von KI in der Justiz werden auch Fragen zum Datenschutz und zur Datensicherheit immer wichtiger. Gerichtsverfahren generieren grosse Mengen sensibler Daten, und der Einsatz von KI erfordert den Zugriff auf diese Daten. Es ist entscheidend, dass diese Daten geschützt und die Verwendung von KI transparent und nachvollziehbar ist.
  • Ethische und rechtliche Implikationen
    Der Einsatz von KI in der Justiz wirft zahlreiche ethische und rechtliche Fragen auf. Welche Verantwortung trägt der Mensch, wenn eine KI-basierte Entscheidung getroffen wird? Wie kann sichergestellt werden, dass die KI keine diskriminierenden Entscheidungen trifft? Und wie lassen sich menschliche Fehler und Vorurteile in die KI-Systeme übertragen und möglicherweise sogar verstärken? Diese Fragen müssen sorgfältig geprüft und geregelt werden, bevor KI flächendeckend in der Justiz eingesetzt wird.
  • Zugang zur Justiz und Chancengleichheit
    KI könnte auch dazu beitragen, den Zugang zur Justiz zu verbessern, insbesondere für Menschen, die sich keine teuren Rechtsanwälte leisten können. Beispielsweise könnten KI-gestützte Chatbots einfache rechtliche Fragen beantworten oder bei der Erstellung von Dokumenten helfen. Dies könnte besonders in Fällen von geringem Streitwert oder bei Routineangelegenheiten eine grosse Hilfe sein.
  • Internationale Entwicklungen und Unterschiede
    Die Implementierung von KI in der Justiz variiert stark von Land zu Land. Während einige Länder, wie die USA und China, bereits umfassende KI-Anwendungen entwickeln und einsetzen, sind andere Länder vorsichtiger und zögern, KI in das Justizsystem zu integrieren. Diese Unterschiede können zu Spannungen führen, insbesondere in grenzüberschreitenden Fällen oder in internationalen Rechtsfragen.

Künstliche Intelligenz wird zweifellos einen tiefgreifenden Einfluss auf die Justiz haben. Sie bietet enorme Chancen für Effizienzsteigerungen, Kostenreduktion und eine verbesserte Entscheidungsfindung. Gleichzeitig müssen jedoch die ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen sorgfältig berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass KI das Justizsystem verbessert und nicht zu neuen Ungerechtigkeiten führt.

Länderüberblick

In Europa gibt es keinen einheitlichen Ansatz zum Einsatz von KI in der Justiz, was auf die unterschiedlichen Rechtssysteme und den Grad der technologischen Entwicklung in den einzelnen Ländern zurückzuführen ist. Die Europäische Union arbeitet jedoch an einem Rahmenwerk für den Einsatz von KI, das auch die Justiz betreffen könnte. Im April 2021 legte die Europäische Kommission den Entwurf eines KI-Gesetzes vor, das darauf abzielt, KI in Europa zu regulieren und sicherzustellen, dass deren Einsatz im Einklang mit den Grundrechten und den ethischen Normen steht. In der Justiz wird in Europa oft betont, dass der Einsatz von KI transparent, erklärbar und diskriminierungsfrei sein muss.

  • Deutschland: Vorsichtiger Fortschritt
    Deutschland verfolgt einen eher vorsichtigen Ansatz im Umgang mit KI in der Justiz. Die deutschen Behörden setzen derzeit hauptsächlich auf die Automatisierung von Verwaltungsprozessen, wie etwa in der Aktenverwaltung oder bei der Bearbeitung von Standardfällen. Die Diskussion über prädiktive Analysen und KI-gestützte Entscheidungshilfen wird zwar geführt, doch gibt es bisher keine flächendeckenden Anwendungen. Ein Beispiel ist der Einsatz von „Legal Tech“ zur Unterstützung von Rechtsanwälten und Richtern, insbesondere bei der Recherche und Analyse von Präzedenzfällen. Diese Technologien werden jedoch noch nicht umfassend in gerichtliche Entscheidungsprozesse integriert. Die deutsche Justiz betont die Notwendigkeit eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen technologischer Effizienz und der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit.
  • Frankreich hat begonnen, KI in einigen Bereichen der Justiz zu testen, insbesondere in der Analyse juristischer Dokumente und der Prognose von Gerichtsurteilen. Allerdings gibt es auch hier starke Bedenken hinsichtlich der Transparenz und Fairness dieser Systeme.
  • Vereinigtes Königreich: Hier wird KI in der Justiz bereits in einigen Pilotprojekten getestet, insbesondere bei der Bewertung des Rückfallrisikos von Straftätern und bei der Unterstützung in Strafverfahren. Der britische Ansatz zeichnet sich durch eine gewisse Experimentierfreude aus, allerdings ist die rechtliche Regulierung noch im Aufbau.
  • Estland ist Vorreiter bei der Digitalisierung der Justiz und experimentiert sogar mit der Idee eines „Robotrichters“ für einfache Fälle. Dieses System ist jedoch noch in einer sehr frühen Phase und dient eher als Beispiel für die potenziellen Möglichkeiten, die KI in der Justiz bieten könnte.
  1. Schweiz: Abwarten und Beobachten

Die Schweiz hat in Bezug auf den Einsatz von KI in der Justiz eine eher abwartende Haltung eingenommen. Bislang gibt es keine umfassenden Initiativen, KI in gerichtlichen Prozessen einzusetzen. Stattdessen konzentriert sich die Schweiz auf die Automatisierung von Verwaltungsprozessen und die Verbesserung der Effizienz durch Digitalisierung, ohne dabei tiefgreifende KI-basierte Systeme zu integrieren. Beispiele für den Einsatz von Technologien in der Justiz umfassen:

  • Automatisierte Textanalyse: Tools, die bei der Durchsicht von Dokumenten helfen, indem sie bestimmte Informationen extrahieren.
  • Vorhersagemodelle: Erste Ansätze für Vorhersagesysteme in Bezug auf Rechtsfragen oder mögliche Urteile sind in Entwicklung, werden jedoch nur in begrenztem Rahmen genutzt.

Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es jedoch keine umfassende Implementierung von KI-basierten Systemen, die richterliche Entscheidungen beeinflussen könnten. Der Einsatz von Algorithmen, wie sie in den USA zur Risikobewertung bei Strafgefangenen verwendet werden, ist in der Schweiz weitgehend unüblich und stösst auf rechtliche sowie ethische Bedenken. Es gibt jedoch Interesse und Diskussionen über die potenziellen Vorteile und Risiken, die KI in der Justiz bringen könnte.

Herausforderungen für die Gesetzgebung

Die Gesetzgebung in vielen europäischen Ländern, einschliesslich der Schweiz, ist noch nicht vollständig auf den Einsatz von KI in der Justiz vorbereitet. Dies bedeutet, dass Regierungen und Gesetzgeber vor mehreren Herausforderungen stehen:

  • Regulierung und Kontrolle: Es besteht ein Bedarf an klaren gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Einsatz von KI in der Justiz regeln. Dies umfasst die Festlegung von Standards für Transparenz, Rechenschaftspflicht und Datenschutz.
  • Schulung und Aufklärung: Richter, Anwälte und andere Akteure des Justizsystems müssen im Umgang mit KI geschult werden. Es ist wichtig, dass sie die Funktionsweise und die Grenzen von KI verstehen, um diese verantwortungsvoll einsetzen zu können.
  • Ethische Überlegungen: Gesetzgeber müssen sicherstellen, dass der Einsatz von KI im Einklang mit den Grundrechten und ethischen Normen steht. Dazu gehört auch, sicherzustellen, dass KI-Systeme keine diskriminierenden Entscheidungen treffen.
  • Anpassung bestehender Gesetze: Viele bestehende Gesetze wurden nicht mit Blick auf KI entwickelt und müssen daher angepasst werden, um den neuen technologischen Realitäten gerecht zu werden. Dies könnte auch neue Gesetze erforderlich machen, die speziell auf die Nutzung von KI abzielen.

In Europa ist der Einsatz von KI in der Justiz ein Thema, das in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird. Während einige Länder wie Estland und das Vereinigte Königreich bereits erste Schritte unternehmen, sind andere, wie Deutschland und die Schweiz, noch vorsichtiger und konzentrieren sich auf die Diskussion und Vorbereitung. Für die Gesetzgeber bedeutet dies, dass sie proaktiv Rahmenbedingungen schaffen müssen, die den verantwortungsvollen Einsatz von KI ermöglichen und gleichzeitig die Grundrechte der Bürger schützen. Die Schweiz wird dabei wohl einen pragmatischen und schrittweisen Ansatz verfolgen, der auf den Erfahrungen und Entwicklungen in anderen Ländern aufbaut.

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