Abolitionismus – Verantwortung statt Schuld

Seit der globalen Black-Lives-Matter-Bewegung ist der Abolitionismus, die eine grundsätzliche Kritik an Polizei und Justiz formuliert, wieder stärker in den Fokus gerückt. Sie plädiert für eine Abschaffung der strafenden Institutionen und fordert neue Formen für Gerechtigkeit. Was die Bewegung kritisiert, wie eine Gesellschaft ohne Polizei und Gefängnisse aussehen kann und welche gesellschaftlichen Veränderungen es bräuchte, damit das funktionieren kann.

 Der Begriff Abolitionismus kommt vom englischen Wort „Abolition“ und steht für Abschaffung. Der Begriff bezeichnete ursprünglich den Kampf gegen die Versklavung in den USA und der Karibik im 18. und 19. Jahrhundert. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde der Abolitionismus-Begriff von neuen Bewegungen aufgegriffen, die sich in diese Tradition stellten und daran erinnerten, dass das Versprechen der Abolition (in diesem Fall der Sklaverei-Abschaffung) weiterhin nicht eingelöst ist, da es etwa in den USA zwar eine rechtliche Gleichstellung von schwarzen und weißen Menschen gibt, sich unter der Hand aber Strukturen des Rassismus und der Unterdrückung erhalten und reproduziert haben. Die abolitionistische Theorie und Praxis versuchte dies anhand verschiedener Themenfelder klarzumachen. Dazu gehörte etwa der Kampf gegen die Todesstrafe, die überproportional häufig gegen schwarze Menschen verhängt wird, sowie der Kampf gegen die Masseneinsperrung in Gefängnissen, insbesondere seit der rasanten Zunahme von Inhaftierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In der Gegenwart hat die Bewegung des Abolitionismus besonders mit der Polizeikritik im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung neue Aufmerksamkeit erhalten. Es wurde kritisiert, dass Formen staatlicher Gewalt – in Form von Einsperrung, Polizeigewalt sowie Gewalt an den Grenzen – nicht nur tief in unsere gesellschaftliche Normalität eingebettet sind, sondern auch in einem überdurchschnittlich hohen Maße schwarze Menschen und People of Color betrifft. Der Abolitionismus verfolgt die Agenda einer grundlegenden Abschaffung dieser Mechanismen und ihrer Institutionen. Spricht man heute von Abolitionismus, ist oft eine Welt ohne strafende Institutionen, ohne Polizei und ohne Gefängnisse gemeint.

Was ist die Kritik an den Gefängnissen?

Der Gefängnisabolitionismus fordert die daraus folgende Abschaffung von Gefängnissen. Zu der vorgebrachten Kritik gehört, dass der Strafvollzug nicht wirksam zur Rehabilitierung und Resozialisierung von Tätern beitrage. Ein grosser Kritiker war bereits in den 80er-Jahren Johannes Feest, ehemaliger Professor für Strafverfolgung an der Universität Bremen. In einem Interview mit dem Spiegel 2020 sagte er: „Die Gefängnisse fördern nur die Illusion, dass wir Kriminalität reduzieren, indem wir Straftäter einsperren. Es gibt keine wissenschaftliche Studie, zumindest mir keine bekannte, die belegen würde, dass Gefängnisstrafe eine abschreckende oder gar bessernde Wirkung hat.“ Für ihn ist das „die große Lebenslüge unserer Kriminalpolitik“, die hohe Rückfallquote unterstreiche dies. Das System Gefängnis sei auch menschenunwürdig, weil man nicht nur der Freiheit entzogen wird, sondern auch der freien Arztwahl, der freien Kommunikation, der autonomen Einteilung des Tages, in Ländern wie Deutschland zur Zwangsarbeit mit Niedrigstlohn eingeteilt werde und dass durch Gefängnisstrafen auch Kinder, Partner und Freunde von Tätern mitbestraft würden. Er betont zudem, dass die Stigmatisierung durch einen Gefängnisaufenthalt viel mehr kontraproduktiv für die Resozialisierung sei.

Feest sieht zudem Massnahmen innerhalb der Justiz, die zügig umzusetzen wären. Dazu gehört für ihn zum Beispiel das Streichen der Ersatzfreiheitsstrafe. 10 Prozent der Inhaftierten in Deutschland sässen nur im Gefängnis, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt haben. Kinder und Jugendliche gehörten nicht in einen Justizvollzug, auch die lebenslange Verwahrung sei durch menschenwürdigere Umgebungen zu ersetzen. Im Grundsatz sagt er: „Eine Möglichkeit wäre, Straftätern, etwas für sie Sinnvolles anzubieten, was sie mit dieser Zeit anfangen können: eine Ausbildung, eine Therapie oder einen Arbeitsplatz, damit sie Geld verdienen, mit dem sie das Opfer entschädigen können.“ Es sei erwiesen, so Feest, dass die meisten Opfer mehr an Wiedergutmachung interessiert sind als an einer Gefängnisstrafe für den Täter.

Was ist die Kritik abolitionistischer Theorien an der Polizei?

Die zentrale abolitionistische Kritik an der Polizei ist diejenige, dass die Institution von Rassismus durchsetzt ist und sich ihre Gewalt systematisch gegen marginalisierte Gruppen der Gesellschaft richtet. Gemeint sind dabei nicht nur die äussersten Auswirkungen des Polizierens, also die dramatischen Todesfälle, sondern auch alltägliche und subtile Formen von Schikanen und Diskriminierungen.

„Es gab immer schon Gruppen, die von staatlichen Institutionen unterdrückt wurden und die das in ihrem Alltag auch stark gespürt haben“, betont Daniel Loick, politischer und Sozial-Philosoph an der Universität Amsterdam, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Nicht nur schwarze Menschen, sondern etwa auch wohnungslose Menschen, Drogennutzerinnen oder Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen würden tendenziell kriminalisiert und seien staatlicher Gewalt stärker ausgesetzt als andere.

Loick erkennt darin nicht nur einzelne Exzesse staatlicher Gewalt, sondern eine „strukturelle Tendenz“: Die durch das Recht versprochene Gleichheit gelte immer nur für manche, während „für andere diese staatlichen Gewaltinstitutionen immer schon ausschließend oder repressiv wirken“. Vanessa E. Thompson, Assistenzprofessorin für Black Studies und Social Justice an der Queen’s University in Kanada, ergänzt, dass bereits in der Geschichte von Polizei und Gefängnis viele polizeiliche Praktiken zunächst in den europäischen Kolonien erprobt wurden. Die Pläne vieler moderner Gefängnisse orientierten sich am architektonischen Aufbau von ehemaligen Sklavenschiffen.

Die abolitionistische Theorie und Praxis versucht mit der Selbstverständlichkeit der Polizei zu brechen. Die Polizei sei die falsche Institution, um gesellschaftliche Sicherheit herzustellen und das gesellschaftliche Gewaltaufkommen zu vermindern. Auch hier solle man eine ganze Reihe anderer Institutionen, die weniger gewaltbasiert sind, zur Lösung sozialer Probleme und zur Schlichtung von Konflikten entwickeln. 

Wieso sollen Polizei und Gefängnisse nicht reformierbar sein?

Der Abolitionismus ist primär eine Reformismuskritik. Dies deshalb, weil die Verteter:innen feststellten, dass sowohl die Polizei als auch das Gefängnis durch die Geschichte hindurch immer wieder und immer neu reformiert wurden. Dies änderte nichts an der grundsätzlichen Struktur, außer dass die Legitimation dieser Institutionen vergrößert wurde.

Alex Vitale, Soziologieprofessor am Brooklyn College, sagte in einem Interview in der WOZ 2020: „Die Reformen, die wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten gesehen haben, zum Beispiel nach den Protesten von Ferguson und dem Mord an Eric Garner, beruhten auf der Idee der Verfahrensgerechtigkeit, also darauf, dass wir die Polizei in Ordnung bringen, wenn wir sie professioneller, unparteiischer, transparenter und haftbarer machen. Das setzt jedoch voraus, dass Gesetzgebung und Polizei neutral sind. Nehmen wir als Beispiel den «War on Drugs», der ja nur bestimmten Bevölkerungsgruppen gilt. Da fordern die Reformisten dann, die Narcotics-Einheiten besser zu schulen. Was aber wirklich notwendig wäre, ist das Ende des «War on Drugs». Die rechtmässige Verhaftung eines Menschen wegen Drogenbesitzes ruiniert ja trotzdem immer noch dessen Leben, und zwar völlig unnötig. Es macht die Gesellschaft weder sicherer noch gesünder, es erzeugt nur mehr Zerstörung. Wir brauchen deshalb Sozialarbeiter statt Polizisten.“

Er führt zudem ein altes Sprichwort ein: Es gibt diese Redewendung aus dem 19. Jahrhundert: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Strassen zu betteln und Brot zu stehlen.“ Die Gesetze betreffen die einen sehr viel stärker als die anderen.

Daniel Loick kritisiert in einem Interview mit dem Philosophie-Magazin zudem, dass die Institutionen von Polizei und Gefängnis auf der gewaltförmigen Durchsetzung beruhen und nicht auf Teilhabe und Selbstbestimmung. Es gebe, so Loick, jedoch auch Reformen, die in einem grösseren Horizont wichtig wären. Die Forderung eines Defundings, also der Polizei die Mittel immer weiter abzubauen und sie in andere Institutionen zu stecken, ist eine davon. Ein anderes Beispiel ist die Entkriminalisierung des Drogenverkaufs und -konsums. „Wenn man das in Deutschland durchsetzen würde, würde eine wichtige Rechtfertigung des alltäglichen Racial Profiling direkt wegfallen. Das wäre eine konkrete Möglichkeit, wie man auch durch Reformen staatlicher Gewalt reduzieren kann – solange sie in einem abolitionistischen Horizont gedacht bleiben“, so Daniel Loick.

Johannes Feest sieht in den Lockerungen im Strafvollzug, die in Deutschland in den letzten 20 Jahren als Teile von Gefängnisreformen eingeführt wurden, neue Disziplinarmassnahmen: „Inzwischen haben sich diese angeblichen Begünstigungen als perfide Sanktionsmassnahmen herausgestellt: weil man sie den Häftlingen entziehen kann.“

Wie will der Abolitionismus vorgehen?

W. E. B. Du Bois formulierte in seinem Buch Black Reconstruction 1935 die Grundidee, dass immer zwei Sachen zusammenkommen müssen: Zum einen eine negative Bewegung im Sinne eines Abwehrkampfs gegen Formen von Unterdrückung und staatlicher Gewalt. Andererseits müsse dies mit einem positiven Aspekt einhergehen. Und das bedeutet der Aufbau von neuen Institutionen. „Wenn Abolitionist*innen sich zum Beispiel gegen Gefängnisstrafen oder gegen die Polizei wenden, dann ist das einerseits eine negative Bewegung – eine konkrete Form der Gewalt soll wegfallen. Gleichzeitig bedeutet das aber immer auch den Aufbau von neuen Strukturen sozialer Teilhabe. Damit werden Probleme von Polizeiproblemen in soziale Probleme umgedeutet, sagt Daniel Loick im Philosophiemagazin. Zur Herstellung dieser Sicherheit schlagen Abolitionist:innen zum Beispiel vor, statt in die Polizei in bessere Gesundheitsversorgung, bessere Versorgung mit Wohnraum und neue Konfliktschlichtungsmechanismen zu investieren. Das Ausüben von Gewalt wurzele oft in eigenen Gewalterfahrungen, sagt auch Vanessa Thompson. Der Kern des Abolitionismus bestehe deshalb darin, „auf Gewalt nicht mit noch mehr Gewalt zu reagieren. Sprich: andere, emanzipatorische, transformative Umgangsweisen mit Gewalt zu finden.“ Es soll also nicht nur Abschreckung und Repression stattfinden, sondern die Ursachen erkannt und das Problem an der Wurzel angegangen werden.

Loick spricht in diesem Zusammenhang von der „Neuerfindung von Institutionen“ nicht im Sinne einer einzigen Lösung, sondern durch die Einbeziehung verschiedenster Gesellschaftsbereiche „wie zum Beispiel Wohnen, Gesundheitsversorgung, Drogenpolitik, Kampf gegen patriarchale Strukturen – und das alles steht unter dem Begriff der abolitionistischen Demokratie. Das versteht sich also als Demokratisierungsbewegung“.

Ein Beispiel sieht er in der Frauenbewegung, wo man nicht nach mehr Polizei zum Schutz vor häuslicher Gewalt rief, sondern autonome Frauenhäuser entstanden, um Orte zu schaffen, in denen für Frauen in für ihre konkreten Probleme eine konkrete Lösung gefunden wird. „Es galt zunächst einmal, der Frau die Möglichkeit zu verschaffen, von zuhause auszuziehen und so die gewaltvolle Situation zu verlassen.“ Daniel Loick ist überzeugt, dass sich diese Idee ausweiten lässt: „Allein wenn man sich überlegt, wie viele finanzielle, aber auch imaginative Ressourcen in die Polizei reingesteckt werden, und was man damit machen könnte, um Alternativen für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt zu schaffen. Vielen Gewaltbetroffenen ist durch eine Verhaftung oder Bestrafung des Täters – zu der es ja häufig auch gar nicht kommt – nur begrenzt geholfen. Viel wichtiger sind soziale Absicherung, Wohnen oder Kinderbetreuung. Und diese ganz konkreten Maßnahmen stehen im Kontext eines breiteren, gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen patriarchale Strukturen und sexistische Gewalt.“

Doch wie soll Gerechtigkeit hergestellt werden?

Abolitionist:innen sprechen in diesem Zusammenhang von Verantwortungsübernahme und transformativer Gerechtigkeit, da es den Opfern oft wichtiger sei, zu wissen, dass die Täter die Verantwortung für ihre Taten übernähmen, als zu hören, dass jetzt eine Gefängnisstrafe für den Täter anstehe.

Die „transformative Gerechtigkeit“ ist eines der am häufigsten verhandelten Konzept in dieser Bewegung. Dies wurde von Frauen of Color entwickelt, um auf sexualisierte Gewalt und intime Gewalt von Partnern, zu reagieren, die sich nicht auf die Polizei beruft. Oft mussten diese Frauen nämlich merken, dass die Zuziehung der Polizei ihre Situation nur verschlimmerte. Gleichzeitig wollen sie aber nicht akzeptieren, dass Frauen Opfer von Gewalt innerhalb der eigenen Beziehungen werden. Das Konzept der „gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme“ war ein Ergebnis dieses Versuchs: Eine Gewalttat wird dabei nicht als eine Angelegenheit zwischen der betroffenen Person und einem Täter verstanden, sondern als etwas, bei dem das gesamte Umfeld in den Aufarbeitungsprozess mit einbezogen werden muss. Ziel des Prozesses ist nicht einfach, eine Person auszuschließen oder zu bestrafen, sondern eine Transformation der gesamten Konstellation zu erreichen, die sich zum einen an den konkreten Bedürfnissen der Betroffenen orientiert und zum anderen auch nachhaltig ist und eine Verhaltensänderung des Täters ermöglicht. Es geht also darum, nicht einfach ein gefährliches Elements zu isolieren und den Rest der Konstellation intakt lassen, wie das heute der Fall ist.

Daniel Loick meint dazu: „Das Modell der transformative Justice ist sicherlich nicht perfekt und lässt viele Fragen offen. Aber es ist ein Beispiel dafür, wie im ganz Kleinen Konzepte entwickelt werden, die dann anleitend sein können für gesamtgesellschaftliche Alternativen.“

Eine Art Kompromiss

Thomas Galli war über 15 Jahre lang im Strafvollzug, zuletzt als Leiter der JVA Zeithain in Sachsen, tätig. Mittlerweile arbeitet er als Rechtsanwalt und ist entschiedener Gegner des Gefängnissystems. Von ihm stammt das Buch „Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen.“ Er schlägt darin eine Art Kompromiss vor. Die Gerichte sollten weiterhin Urteile fällen, jedoch den Unrechtsausspruch von den Rechtsfolgen trennen. Das Strafgericht soll nur noch einen Rahmen möglicher Maßnahmen festlegen. Ein Gremium soll dann unter Einbindung von Fachleuten, dem Täter, dem Opfer und Bürgern Maßnahmen auswählen und während der gesamten Dauer des Vollstreckungsverfahrens diese entsprechend der Entwicklung der Beteiligten anpassen.

Er meint, viel zu sehr würde sich die Gesellschaft beim Strafen vom Gedanken der Schuld, Vergeltung und Buße leiten lassen, sagt Galli. Das aber schade allen – den Opfern, deren Interessen vernachlässigt werden, den Tätern, die eben nicht resozialisiert und auf ein straffreies Leben vorbereitet werden, und der Gesellschaft, der eine vermeintlich höhere Sicherheit vorgegaukelt wird. Denn darüber seien sich Kriminologen seit langem ziemlich einig: Gefängnisstrafen mindern kaum die Zahl der Rückfälle und wirken auch nur wenig abschreckend für andere potenzielle Straftäter.

Straftäter sollen mehr Verantwortung für ihre Taten übernehmen und echte Wiedergutmachung leisten. Idealerweise so, dass auch Opfer etwas davon haben. So könnte ein Betrunkener, der an einem illegalen Autorennen teilgenommen hat, in einer Unfallklinik arbeiten. Wer Steuern im großen Stil hinterzogen hat, könnte an einem staatlichen Kindergarten aushelfen. Galli gibt in seinem Buch zahlreiche Beispiele, wie sich Lebensläufe verändern könnten, wenn man darauf verzichtet, Straftäter komplett aus der Gesellschaft herauszunehmen und wegzusperren.

Welche Kritik gibt es am Abolitionismus?

Kirstin Drenkhahn, Professorin für Strafrecht an der Freien Universität, sagt gegenüber dem Deutschlandfunk, sie halte das Konzept „für ziemlich unrealistisch“, weil es Menschen benötige, die ihre Konflikte auf eine viel reifere, erwachsenere und mutigere Weise lösen können. „Ich sehe nicht, dass das flächendeckend passieren wird.“

Der Soziologe Thomas Land kritisiert, dass Abolitionist:innen wie Thompson und Loick das aktuelle Strafsystem zu sehr mit Identität und zu wenig mit dem Kapitalismus in einen Zusammenhang brächten. Es finde eine Überbetonung von Race im Racial Capitalism statt. Deswegen komme es zum Fehlschluss, zu glauben, dass man die Polizei abschaffen könne, ohne den Rest, also das kapitalistische System, das notwendig auf die Polizei angewiesen sei, gleich mit abzuschaffen.

Der Staat bleibe bei diesem Modell auch aussen vor. Wer aber kann überprüfen, ob das Verhandlungsergebnis umgesetzt wird? Wird dann notfalls nicht doch eine Polizei notwendig?

Wer beschliesst das Ende dieses Prozesses? Ebenso unklar ist: Bekommt der Täter eine zweite Chance, wie nach dem Absitzen der Strafe nach dem jetzigen Modell?

Ist Abolitionismus ein zukunftsfähiges Konzept?

Das Konzept des Abolitionismus kann man gut oder schlecht finden. Sicherlich regt es zum Nachdenken über eine andere Form der Reaktion auf Gewalt an – über eine, die weniger durch den Gedanken der Rache, Sühne, Schuld und Gegengewalt geprägt ist. Vielmehr soll eine bessere Welt entstehen durch eine Form des Dialogs, der Aussöhnung und der kollektiven Reaktion auf Konflikte und Gewalt. Ob das letztlich funktioniert, müsste erprobt werden. Darunter ist nicht gleich ein radikaler Bruch zu verstehen, sondern die Frage, in welche Richtung wir uns als Gesellschaft bewegen wollen und damit, wie wir meinen Sicherheit für herzustellen: durch mehr Strafgesetzparagrafen, eine hochgerüstete Polizei und repressive Abschreckung oder durch Therapien, Täterprogramme und Verantwortungsbewusstsein.

Die Abschaffung der Sklaverei

Jean-François Zorn, ist ein schweizerisch-französischer Historiker und protestantischer Theologe. Seine Arbeiten umfassen verschiedene Bereiche wie Anthropologie, Soziologie und die Geschichte des Christentums in der heutigen Zeit, speziell die Missionswissenschaft.Er hat folgenden Text für das Protestantisches Museum geschrieben, das sich mit dem Thema auseinandersetzte. 

Die Sklaverei war mit dem Gedankengut der bedeutenden politischen, wirtschaftlichen und theologischen Strömungen ( Menschenrechte, gerechter Handel, Evangelisation) des 19. Jahrhunderts nicht mehr in Einklang zu bringen. Sie wurde daher, nachdem sie von Napoleon wieder eingeführt worden war, 1848 endgültig abgeschafft.

Am Ende des 18. Jahrhunderts öffnet sich Europa erneut der Welt. Der Beginn der industriellen Revolution, die Suche nach Absatzmärkten, der Bedarf an neuen Produkten, der Bevölkerungszuwachs in Europa veranlassen die Seefahrer, die Meere zu durchqueren, Versorgungsstützpunkte und Handelsplätze an den Küsten Afrikas, Asiens und des Pazifiks zu errichten, auf Kontinenten also, deren Inneres praktisch unbekannt war. Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt hauptsächlich unter dem Druck der britischen und französischen Kolonialpolitik die Erschliessung der Kontinente, die von den Fortschritten in der Seefahrt (Dampfschiffe) und der Medizin (Entdeckung des Chinins) begünstigt wird. Die Erforscher Afrikas entdecken zu der Zeit das Ausmaß der Schäden des Sklavenhandels. Dieser „abscheuliche Handel“, der schon 400 Jahre lang dauert, scheint unvereinbar mit dem von der Kolonialpolitik gewünschten „gerechten Handel“. Die Abschaffung der Sklaverei wird aus wirtschaftlichen Gründen zwingend.

Ausbreitung des Abolitionismus

In Europa ging eine Anti-Sklavereibewegung (abolitionnisme) dieser Bewusstwerdung voraus. 1794 hatte der Nationalkonvent die Sklaverei abgeschafft, jedoch Napoleon hatte sie 1802 wieder eingeführt. 1807 hatte England den Sklavenhandel verboten und 1833 im Parlament für die Abschaffung der Sklaverei gestimmt. Frankreich verbot 1848 die Sklaverei in den Kolonien endgültig und verankerte ihre Abschaffung in seiner Verfassung. Der europäischen Anti-Sklavereibewegung mangelt es nicht an religiösen Argumenten. In England berufen sich die Gegner der Sklaverei (der Quäker Thomas Clarkson und der methodistische Parlamentarier William Wilberforce) auf das Evangelium. In Frankreich dagegen führt die Gesellschaft der „Freunde der Schwarzen“ offiziell ihren Kampf im Namen der Menschenrechte. Hingegen gründen französische Gegner der Sklaverei, Abbé Grégoire ( ein Kirchenvertreter der verfassungesgebenden Versammlung) und Pfarrer Benjamin Sigismond Frossard ihren Kampf auf die christliche Religion. Ein anderer Pfarrer und Hochschulprofessor von Montauban, Guillaume de Félice, ist 1846-47 einer der wichtigsten Akteure der Bewegung, die in den Kirchen Eingaben für die Abschaffung der Sklaverei sammelt. Diese Art von Aktionen führt 1848 zum gesetzlichen Verbot der Sklaverei in Frankreich.

Eine neue christliche Ethik

Seit Beginn des Sklavenhandels im 16. Jahrhundert hatten sich die europäischen Sklavenhändler als Christen ausgegeben, indem sie ihre „Ladungen“ von einem katholischen oder protestantischen Seelsorger begleiten ließen. In Frankreich waren die protestantischen Reeder der Hafenstädte (Bordeaux, Nantes, La Rochelle, Rouen) am Sklavenhandel beteiligt. Die Gegner des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert prangerten diesen Tatbestand an, wobei sie jedoch den Männern zu Gute hielten, dass sie Opfer der Vorurteile ihrer Zeit waren. Aber nach der Revolution und der Erklärung der Menschenrechte war es nicht mehr möglich, die Vermischung von Christentum und Sklavenhandel zu akzeptieren oder irgendeine Aktion der Evangelisation in Afrika zu unternehmen, ohne die vorausgehende oder begleitende Verkündigung von Freiheit und Gleichheit aller Menschen, schwarzer wie weißer, vor Gott. Die Missionsbewegung des19. Jahrhunderts ging mit der Bewegung gegen die Sklaverei also Hand in Hand.

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