Das Strafrecht ist manchmal verwirrlich mit seinen Begrifflichkeiten. Da heisst es in den Urteilen zu dem Fall des bosnischen Drogenkuriers, es werde ihm nur ein geringes Verschulden attestiert. Gleichzeitig aber ist die Rede von einer schweren Straftat. Wie geht das zusammen? Was ist der Unterschied zwischen der Schwere der Schuld und der Schwere der Tat?
Der Fall des bosnischen Drogenkuriers, der gemäss Schweizer Justiz für fünf Jahre ausgeschafft werden sollte, dessen Beschwerde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am Ende aber geschützt wurde, gibt viel zu reden. (Siehe Inside Justiz-Artikel «Und wieder eine Ohrfeige vom EGMR»). Der Streit zwischen den Gerichten ist unter anderem an der Frage entbrannt, was höher zu gewichten ist: Die Schwere der Tat, die als hoch qualifiziert wird oder das Verschulden, das als «leicht» eingestuft wird. Das ist der Unterschied:
Das Verschulden richtet sich, vereinfacht gesagt, nach der Frage, wie schwer der persönliche Vorwurf gegen den Täter wiegt. Die Bewertung des Verschuldens ist in Art. 47 Abs. 2 des Strafgesetzbuches beschrieben. Dort heisst es, das Verschulden werde «nach der Schwere der Verletzung oder Gefährdung des betroffenen Rechtsguts, nach der Verwerflichkeit des Handelns, den Beweggründen und Zielen des Täters sowie danach bestimmt wird, wieweit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung oder Verletzung zu vermeiden.»
Einmal abgesehen vom Punkt «Schwere der Verletzung», der hier nicht so richtig zu passen scheint, sind alle weiteren Kriterien sogenannte subjektive Tatbestandsmerkmale. Am Beispiel des Drogenkuriers: Der Täter hat ein Drogenpaket von A nach B verbracht. Er fällt damit in den gleichen Strafrahmen wie ein anderer, der versucht, auf dem Pausenplatz eines Gymnasiums neue Drogenkonsumenten «anzufixen». Gleichwohl erscheint das Verhalten des zweiten Täters wesentlich verwerflicher. Oder am Beispiel der Beweggründe: Wenn der Täter das Drogenpaket transportiert hätte, um in einer grossen persönlichen Verzweiflung das Geld für die Behandlung seiner schwer an Krebs erkrankten Tochter zu erhalten, dann wäre das Verschulden als leichter taxiert worden als wenn er die Straftat beging, weil er sich damit einen neuen Lambo finanzieren wollte.
Schwere der Tat: Der Versuch einer objektiven Katalogisierung
Im Gegensatz zum Verschulden ist die Schwere der Tat eine «objektive» Katalogisierung von Delikten. Das Strafrecht unterscheidet zwischen Übertretungen, Vergehen und Verbrechen. Verbrechen werden im Strafgesetz mit Freiheitsstrafen von mehr als drei Jahren bedroht, Vergehen mit solchen von bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe. Übertretungen werden meist mit einer Busse bestraft.
Im Grundsatz gilt dabei: Je höher die Strafandrohung, je schwerer die Tat.
Die Anführungszeichen bei «objektiv» begründen sich damit, dass natürlich auch die Katalogisierung der Schwere von Delikten gesellschaftliche Überzeugungen abbildet. Der Drogenhandel ist dafür ein gutes Beispiel: Wer bei diesem Tatbestand das Bild einer offenen Drogenszene vor Augen hat, wie sie früher am Zürcher Letten herrschte, der wird die Schwere von Drogenhandel anders bewerten als jemand, der dabei an kokainschnupfende Juristen denkt, welche die Droge zur Leistungssteigerung einsetzen und keine negativen gesellschaftlichen Folgen generieren.
Kulturelle und zeitgeschichtliche Veränderungen
Auch über die verschiedenen Kulturen hinweg herrschen zu verschiedenen Delikten unterschiedliche Vorstellungen: So wird in muslimischen Ländern Drogenhandel verschiedentlich sogar mit der Todesstrafe bedroht, wogegen häusliche Gewalt gegen Frauen je nachdem nicht einmal als Delikt gesehen wird. Und schliesslich ändern sich die Vorstellungen im Verlaufe der Zeitgeschichte. Für junge Menschen ist heutzutage schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar, dass auch in der Schweiz noch bis in die 70er Jahre ein Konkubinationsverbot herrschte: Das Zusammenleben von Frau und Mann ohne Trauschein in einem Haushalt stellte im Kanton Zürich bis 1972 ein Delikt dar.
Dogmatik des Drogenhandels im Schweizer Recht
Drogenhandel ist in der Schweiz nicht im Strafgesetzbuch, sondern in Art 19 Abs. 1 im Betäubungsmittelgesetz mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren bedroht. Es handelt sich also um ein Vergehen, nicht um ein Verbrechen. Artikel 19 Abs. 1 BetmG regelt zwar das «befördern» und «veräussern» unter zwei verschiedenen Buchstaben von Absatz 1 des Artikels, in Bezug auf den Strafrahmen macht das Gesetz keinen Unterschied. Man spricht bei diesem Abs.1 vom sogenannten «Grundstraftatbestand».
Art. 19 Abs. 2 BetmG regelt dann die sogenannten «qualifizierten» Straftatbestände, für die eine Freiheitsstrafe von «nicht unter einem Jahr» angedroht wird – nach oben macht das Gesetz keine Vorgabe. Was bedeutet, dass grundsätzlich bis zu 20 Jahre Freiheitsstrafe (das Maximum vor lebenslänglich) verhängt werden können.
Qualifizierende Tatbestände, die das Vergehen zum Verbrechen machen können, sind z.B., wenn der Täter Teil einer Bande ist, wenn er gewerbsmässig handelt und grosse Umsätze oder einen erheblichen Gewinn erwirtschaftet, oder er gewerbsmässig Drogen an Ausbildungsstätten anbietet. Und eben auch, wenn der Handel «die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann» und der Täter das zumindest annehmen musste.
Kritik aus der Lehre
Die Qualifikation von Fällen wie dem Vorliegenden als «schwere Straftaten» ist in der Lehre allerdings nicht unumstritten. Professor Peter Albrecht, emeritierter Strafrechtsprofessor der Universität Basel, übt beispielsweise an der Anwendung von Art. 19 Abs. 2 lit. a des Betäubungsmittelgesetzes seit vielen Jahren erhebliche Kritik in vielerlei Hinsicht und bemängelt die strikte Auslegung des Artikels, ohne dass das Bundesgericht dafür je logisch nachvollziehbare und stringente Argumente habe beibringen können.
Zu den vom Bundesgericht festgelegten Grenzwerten (wie den 18 Gramm Kokain), ab denen die Gesundheit einer grossen Zahl von Menschen gefährdet sein soll, schreibt er in Stämpflis Handkommentar schon im Jahr 2016: «Trotz der breiten und vielfältigen Kritik hat das BGer an den tiefen Grenzwerten bislang unbeirrt festgehalten. Die höchstrichterliche Zahlenakrobatik hat im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte eine unbezwingbar erscheinende Eigendynamik entwickelt und einen beinahe heiligen Status erlangt, an dem kaum mehr jemand zu rütteln wagt (und schon gar nicht erfolgreich rütteln kann).» – Ob sich das mit dem jüngsten EGMR-Entscheid nun ändert?
Der Fall:
Am 17. September 2024 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, ein Urteil des Bundesgerichts verletzte die Europäische Menschenrechtskonvention. In dem Urteil war ein Bosnier, der 2018 als Drogenkurier aufflog, zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten bedingt und 5 Jahren Landesverweisung verurteilt. Der Bosnier, der in der Schweiz verheiratet ist und zwei Kinder mit Jahrgang 2014 und 2016 hat, wehrte sich gegen die Landesverweisung und machte einen Härtefall geltend.
Anders als alle Schweizer Gerichte vom Bezirksgericht Zürich über das Obergericht bis zum Bundesgericht entschied der EGMR, das Recht auf Familienleben nach Art. 8 der Konvention sei verletzt, weil die Massnahme der fünfjährigen Landesverweisung nicht verhältnismässig sei.
Art. 47 StGB
1 Das Gericht misst die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu. Es berücksichtigt das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse sowie die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters.
2 Das Verschulden wird nach der Schwere der Verletzung oder Gefährdung des betroffenen Rechtsguts, nach der Verwerflichkeit des Handelns, den Beweggründen und Zielen des Täters sowie danach bestimmt, wie weit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung oder Verletzung zu vermeiden.
Art. 19 BetmG
1 Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer:
- Betäubungsmittel unbefugt anbaut, herstellt oder auf andere Weise erzeugt;
- Betäubungsmittel unbefugt lagert, versendet, befördert, einführt, ausführt oder durchführt;
- Betäubungsmittel unbefugt veräussert, verordnet, auf andere Weise einem andern verschafft oder in Verkehr bringt;
- Betäubungsmittel unbefugt besitzt, aufbewahrt, erwirbt oder auf andere Weise erlangt;
- den unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln finanziert oder seine Finanzierung vermittelt;
- öffentlich zum Betäubungsmittelkonsum auffordert oder öffentlich eine Gelegenheit zum Erwerb oder Konsum von Betäubungsmitteln bekannt gibt;
- zu einer Widerhandlung nach den Buchstaben a–f Anstalten trifft.
2 Der Täter wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft, wenn er:
- weiss oder annehmen muss, dass die Widerhandlung mittelbar oder unmittelbar die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann;
- als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Ausübung des unerlaubten Betäubungsmittelhandels zusammengefunden hat;
- durch gewerbsmässigen Handel einen grossen Umsatz oder einen erheblichen Gewinn erzielt;
- in Ausbildungsstätten vorwiegend für Jugendliche oder in ihrer unmittelbaren Umgebung gewerbsmässig Betäubungsmittel anbietet, abgibt oder auf andere Weise zugänglich macht.
3 Das Gericht kann in folgenden Fällen die Strafe nach freiem Ermessen mildern:
- bei einer Widerhandlung nach Absatz 1 Buchstabe g;
- bei einer Widerhandlung nach Absatz 2, wenn der Täter von Betäubungsmitteln abhängig ist und diese Widerhandlung zur Finanzierung des eigenen Betäubungsmittelkonsums hätte dienen sollen.
4 Nach den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 ist auch strafbar, wer die Tat im Ausland begangen hat, sich in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird, sofern die Tat auch am Begehungsort strafbar ist. Ist das Gesetz des Begehungsortes für den Täter das mildere, so ist dieses anzuwenden. Artikel 6 des Strafgesetzbuches ist anwendbar.