Vor bald zwei Jahren enthüllte INSIDE-JUSTIZ, dass ein Bündner Verwaltungsrichter der CVP der Vergewaltigung beschuldigt wurde. Unterdessen wurde der Beschuldigte vom Regionalgericht Plessur in erster Instanz verurteilt. Als ein Leserbrief-Kommentator den beschuldigten Richter der Arroganz bezichtigte, reichte dieser Strafanzeige wegen Ehrverletzung und Rassendiskriminierung ein. – Was folgt, ist eine Justizposse.
Der Leserbriefschreiber bezeichnete den beschuldigten Richter als «arroganten Grosskotz» und Secondo, in dessen Heimat Vergewaltigungsdelikte «keine grosse Sache» seien. Der Kommentar wurde bei der ersten Sichtung durch INSIDE-JUSTIZ entfernt, da er von der Redaktion als grenzwertig eingestuft wurde.
Richter reicht Strafanzeige ein
Der beschuldigte Richter war in der gesamten Berichterstattung von INSIDE-JUSTIZ nie namentlich genannt worden. Dass er Mitglied der CVP war, hatte seine eigene Verteidigerin mitgeteilt. Dennoch reichte der beschuldigte Richter Strafanzeige gegen Unbekannt ein – und gegen die Verantwortlichen von INSIDE-JUSTIZ, konkret: Chefredaktor Roger Huber. Der unterdessen erstinstanzlich (aber noch nicht rechtskräftig) verurteilte mutmassliche Vergewaltiger verlangte eine Bestrafung wegen Beschimpfung nach Art. 177 StGB und Rassendiskriminierung nach Art. 261bis StGB, stellte sich selbst als Opfer dar und unterstellte der geschädigten Praktikantin, die Akten an INSIDE JUSTIZ weitergeleitet zu haben.
Ausriss: Strafanzeige des – unterdessen erstinstanzlich, aber noch nicht rechtskräftig – verurteilten Churer Vergewaltigungsrichters.
Geheimuntersuchung durch St. Galler Staatsanwaltschaft
Weil der Trägerverein INSIDE JUSTIZ seinen Sitz in St. Gallen hat, wurde zunächst die dortige Staatsanwaltschaft aktiv. Der auf «Cybercrime» spezialisierte St. Galler Staatsanwalt Daniel Burgermeister tat wie beantragt und nahm die Ermittlungen an die Hand. Und das zunächst im Geheimen und beim Internetprovider Cyon, bei dem INSIDE JUSTIZ gehostet wird. In der Editionsverfügung vom 14. März 2023 wird das Internetunternehmen aufgefordert, an die Staatsanwaltschaft zu melden, welche IP-Adresse sich hinter dem Leserbriefschreiber verstecke, den wir hier «Haas*» nennen. Cyon wurde ausserdem unter der Strafandrohung von Art. 292 StGB verpflichtet, gegenüber INSIDE JUSTIZ Stillschweigen zu wahren und die Redaktion nicht über die Geheimoperation zu informieren. – Worauf zurückzukommen sein wird. Darüber hinaus stellt Burgermeister dem Provider eine Reihe von weiteren Fragen, etwa nach dem wörtlichen Inhalt des Kommentars, dem genauen Zeitstempel und der Funktionsweise der Kommentarfunktion.
Ausriss: Editionsverfügung des St. Galler Staatsanwaltes Daniel Burgermeister an den Provider Cyon mit der Strafandrohung, sollte der Provider den Beschuldigten oder die Redaktion von INSIDE JUSTIZ über die verdeckte Untersuchungshandlung der Staatsanwaltschaft unterrichten. INSIDE JUSTIZ oder der Beschuldigte selbst, denen ebenfalls ein Siegelungsrecht zustehen würde, wurden nie informiert.
Identität nicht bestätigt – Verurteilung erfolgt trotzdem
Burgermeisters Ausbeute bleibt allerdings mager: Provider Cyon kann ihm zu dem Namen «Haas», unter dem der Kommentar für kurze Zeit online war, lediglich eine IP-Adresse, den genauen Zeitpunkt, zu dem der Kommentar hinterlegt wurde und eine E-Mail-Adresse liefern. Letztere hatte der Leserbriefschreiber allerdings selbst eintragen können, die E-Mail-Adresse wird technisch nicht festgestellt.
«Die E-Mail-Adresse wird auch nicht verifiziert», sagt INSIDE-JUSTIZ-Chefredaktor Roger Huber, «ebensowenig wie der Name eines Kommentarschreibers. Wir wünschen uns angeregte Diskussionen auf der Seite und wollen Personen, die ihre Identität aus ehrenwerten Motiven nicht preisgeben wollen, nicht abschrecken. Die E-Mail-Adresse wird darüber hinaus aber auch nicht veröffentlicht».
Will heissen: Eine Person kann problemlos als «Schaagi Haas» mit der E-Mail-Adresse «schaagi.haas@loh-mi-au-mit.ch» einen Kommentar hinterlassen. Einziges wirkliches Identifikationsmerkmal und Ansatzpunkt für Nachforschungen bleibt somit die IP-Adresse, die vom System automatisch erfasst und gespeichert wird.
Der Berg gebärt eine Maus
Staatsanwalt Burgermeister stellte in der Folge und nach umfangreichen Abklärungen durch die Bundesanwaltschaft, der Registrationsstelle NIC und Swisscom mit Schreiben an die Staatsanwaltschaft Graubünden fest, dass es tatsächlich einen Schaagi Haas gebe mit der E-Mail-Adresse schaagi.haas@loh-mi.au-mit.ch und die Domain loh-mi-au-mit.ch auf eine Person namens Schaagi Haas in Chur registriert sei. Schaagi Haas könne zudem die Handy-Nummer +41 79 NNN NN NN* zugeordnet werden.
Die Handy-Nummer sowie die fragliche E-Mail-Adresse könnten wiederum mit einem Schaagi Haas in Verbindung gebracht werden, und die Rufnummer sei auf die Schaagi Haas Development AG zugelassen, dessen einziges Organ Schaagi Haas sei, hält Burgermeister weiter fest. Auch dass der inkriminierte Kommentar «auf einem iPhone mit dem Betriebssystem iOS 13 geschrieben worden war», konnten die St. Galler Cyberermittler feststellen. Und dass Schaagi Haas ein WhatsApp Account habe, das mit seiner Telefonnummer läuft. In den Akten finden sich denn auch Bilder von Schaagi Haas, die wohl aus seinem WhatsApp Account stammen.
Daraus folgert Staatsanwalt Burgermeister messerscharf: «Anhand dieser Informationen besteht der Verdacht gegen Schaagi Haas, 7000 Chur, den in der aufgeführten Strafanzeige strafrelevanten Kommentar verfasst zu haben.» Das schreibt er mit Datum vom 22. Juni 2023 an die Bündner Staatsanwaltschaft und bittet um Verfahrensübernahme.
Swisscom: Keine Verbindung unter dieser Nummer
Was Burgermeister nicht schreibt: Die gesamten Aufwendungen, für die er den Bündner Behörden CHF 1’370.— verrechnet, erbringen keinerlei Nachweis dafür, dass Schaagi Haas tatsächlich etwas mit dem Kommentar zu tun hat. Dafür hätte es nämlich des Nachweises bedurft, dass die einzige «gesicherte Spur», nämlich die IP-Adresse des Kommentarschreibers, sich zweifelsfrei mit der Handy-Nummer von Schaagi Haas in Verbindung bringen lässt. Sprich: Die Ermittler hätten nachweisen müssen, dass Shaagi Haas’ Handy zum Zeitpunkt, zu dem der Kommentar abgeschickt wurde, über die festgestellte IP-Adresse auch tatsächlich mit dem Internet verbunden war.
Diesen Nachweis versuchten die St. Galler Cyber-Ermittler zwar tatsächlich zu erbringen. Dazu hatten sie die festgestellte Handynummer und noch zwei weitere, hinter denen sie offenbar ebenfalls Schaagi Haas vermuteten, bei der Swisscom abgefragt. Im Fachjargon heissen die Handynummern dort MSISDN – steht für «Mobile Station International Subscriber Directory Number». Rückmeldung der Swisscom (nach acht Stunden Zeitaufwand): «In der angegebenen Minute haben 106 verschiedene MSISDN die angegebene IP verwendet. Die drei gefragten MSISDN gehören nicht dazu.»
Mit anderen Worten: Wer auch immer den Kommentar abgesetzt hatte, Schaagi Haas’ Handy kann es gemäss Swisscom-Auskunft nicht gewesen sein. Hatte sich der eigentliche Kommentarschreiber vielleicht lediglich der Identität von Schaagi Haas bedient – indem er dessen Namen und E-Mail-Adresse hinterlegte und damit eine falsche Fährte legte? Wollte sich einer einen Spass erlauben oder hatte der Unbekannte noch eine Rechnung offen mit Schaagi Haas? Die Frage muss offen bleiben.
Ausriss des Swisscom-Nachweises: Die von der Staatsanwaltschaft angefragten drei Telefonnummern, die offenbar Schaagi Haas zugeordnet werden konnten, waren allesamt zum Tatzeitpunkt nicht über die beim Provider registrierte IP-Adresse mit dem Internet verbunden. Damit kann der inkriminierte Kommentar nicht von einem dieser drei Handys des Beschuldigten abgesetzt worden sein.
Für einen Strafbefehl der Bündner Staatsanwaltschaft reicht es allemal
Nach einem längeren Schriftwechsel zwischen den Bündner und den St. Galler Untersuchungsbehörden, wer denn nun nach diesem Rechercheergebnis für die Strafverfolgung zuständig sei, ermittelt am Ende Staatsanwalt Burgermeister in St. Gallen gegen INSIDE-JUSTIZ-Chefredaktor Roger Huber. Dieser wird zur staatsanwaltlichen Einvernahme bei Burgermeister vorgeladen und tut, was Medienschaffende in solchen Situationen immer tun: Er schweigt und beruft sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht der Medienschaffenden. Wenig später wird das Verfahren gegen ihn ergebnislos eingestellt, Hubers Anwalt wird für seine Arbeit aus der Staatskasse entschädigt.
In Graubünden wird Schaagi Haas zu einer polizeilichen Befragung aufgeboten und tut dasselbe: Er beruft sich auf das Recht eines jeden Beschuldigten, zu schweigen. Dann hört er lange nichts mehr, bis er vor – interessanterweise wenige Tage vor dem Prozess gegen den ehemaligen Verwaltungsrichter – Post vom Bündner Staatsanwalt Ursin Brunett erhält, den er wohlverstanden nie gesehen hat, geschweige denn von ihm je einvernommen wurde. In der Post: ein Strafbefehl, in dem Schaagi Haas wegen übler Nachrede (nicht wegen Beleidigung) verurteilt wird zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à CHF 160.—, total also CHF 6’400.— bedingt ausgesprochen mit einer Probezeit von 2 Jahren, einer Busse von CHF 1’600.—, Verfahrenskosten von CHF 1’370.—, Barauslagen von CHF 105.— sowie Gebühren von CHF 900.—. Für die letzteren Posten in der Höhe von CHF 3’975.— liegt gleich ein Einzahlungsschein bei.
Eine absurd hohe Strafe für eine Tat, die er gemäss den Akten gar nicht begangen hat. Schaagi Haas hat zehn Tage Zeit, gegen den absurden Strafbefehl Beschwerde einzureichen. Was er umgehend getan hat. Zur Verdeutlichung: Der erstinstanzlich wegen Vergewaltigung verurteilte Churer Verwaltunsgrichter wurde zu einer unbedingten Geldstrafe von 2’300 Franken verurteilt. Das ist deutlich tiefer als die zu zahlende Busse von Schaagi Haas. Für einen Leserbrief, den er gar nicht geschrieben hat.
Viele Fragen an die Staatsanwaltschaft Graubünden
Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft Graubünden wirft – einmal mehr – viele kritische Fragen auf. Wie kann ein Beschuldigter ohne irgendeinen Beweis verurteilt werden? Warum wird Schaagi Haas verurteilt, ohne dass er von Staatsanwalt Ursin Brunett je einvernommen worden wäre? Warum stützt sich die Bündner Staatsanwaltschaft auf eine Untersuchung des Kollegen Burgermeister aus St. Gallen, die viele widerrechtliche Handlungen enthielt?
Auf die fälligen Fragen von INSIDE JUSTIZ antwortet Kevin Knobel Im Namen der Staatsanwaltschaft Graubünden lapidar: «Aufgrund des laufenden Verfahrens können wir uns nicht zu verfahrenstechnischen Fragen äussern.»
* Die tatsächlichen Namen und Telefonnummern sind der Redaktion bekannt, wurden aber aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.
Art. 177 StGB – Beschimpfung
1 Wer jemanden in anderer Weise durch Wort, Schrift, Bild, Gebärde oder Tätlichkeiten in seiner Ehre angreift, wird, auf Antrag, mit Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen bestraft.
2 Hat der Beschimpfte durch sein ungebührliches Verhalten zu der Beschimpfung unmittelbar Anlass gegeben, so kann das Gericht den Täter von Strafe befreien.
3 Ist die Beschimpfung unmittelbar mit einer Beschimpfung oder Tätlichkeit erwidert worden, so kann das Gericht einen oder beide Täter von Strafe befreien.
Art. 261bis StGB – Diskriminierung und Aufruf zu Hass
Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder zu Diskriminierung aufruft,
wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung dieser Personen oder Personengruppen gerichtet sind,
wer mit dem gleichen Ziel Propagandaaktionen organisiert, fördert oder daran teilnimmt,
wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht,
wer eine von ihm angebotene Leistung, die für die Allgemeinheit bestimmt ist, einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung verweigert,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Art. 292 StGB – Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen
Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet, wird mit Busse bestraft.
SB oder Einstellung? Die Wahl hängt oft davon ab, welche Variante des Verfahrensabschlusses den geringeren Widerstand/ Aufwand für die STA verspricht. Beweisergebnis/ Fakten werden zweitrangig – so meine subjektive Wahrnehmung. Oder bin ich zu negativ?
Dieses Vorgehen von Burgermeister ist rechtsstaatlich nicht zulässig und peinlich.
Strafbefehle ohne gerichtsfesten IP Beweis sind rechtlich per se nichtig.
Folglich: StA Burgermeister gehört demnächst förmlich elegant in die Arbeitslosigkeit entlassen. Die gesamte GR Staatsanwaltschaft ist seit dem irritierenden Verwaltungsrichterfall (keinerlei U-Haft, Verfahren vorsätzlich verzögert sowie Zeugen-Beweise nicht zeitnah gesichert) ein Fall für die Klinik.
So, dann sucht mal schön meine IP. Viel Vergnügen Ihnen beim Ermitteln.