St. Galler alt-Professor Geiser lanciert neue Geschlechterdebatte

Der emeritierte St. Galler Rechtsprofessor und frühere nebenamtliche Bundesrichter Thomas Geiser lanciert in der Sonntagszeitung die Debatte das amtliche Geschlecht. Es gebe kein Grund dafür, dass der Staat einen Unterschied zwischen den Geschlechtern mache, findet Geiser in einem Interview mit dem Journalisten Micha Aebi. – Und Geiser geht noch weiter: «Zwischen Mann und Frau zu unterscheiden, widerspricht der Bundesverfassung». 

Die Idee ist auf den ersten Blick bestechend: Wie liesse sich die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern besser zum Ausdruck bringen als dadurch, dass der Staat keine Unterscheidung mehr zwischen den Geschlechtern macht und schlicht auf die Erhebung des biologischen Geschlechts verzichtet.  Die Diskriminierung bei den Witwenrenten oder in der Altersvorsorge – sie wären mit einem Streich Geschichte, folgte die Gesellschaft nur dem Vorschlag des früheren  St. Galler Rechtsprofessors Thomas Geiser (SP), der um seine Homosexualität auch in dem jüngsten Artikel kein Geheimnis macht.

Unterscheidung ist verfassungswidrig

Es gebe heute «einfach keinen Grund mehr», zwischen Mann und Frau zu unterscheiden. «Zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden, widerspricht dem Gleichstellungsgebot in der Bundesverfassung. Der Staat dürfte diese Unterscheidung eigentlich gar nicht mehr machen», sagt Geiser im Interview. Schon mit dieser Aussage dürfte der pensionierte St. Galler Professor indes bei vielen gestandenen Juristen für Stirnrunzeln bis Kopfschütteln sorgen. Sie alle erinnern sich, schon im Proseminar gelernt zu haben, dass das Diskriminierungsverbot im Rechtsstaat bedeute, «Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.»  Gleichwertig oder gleichberechtigt ist eben nicht mit gleich zu verwechseln. 

Der Interviewer der Sonntagszeitung fragt denn auch nach, es gäbe doch zahlreiche Gesetze, die unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen festlegen. Geiser: «Es sind nur noch sehr wenige relevante Gesetze. Die meisten Unterschiede wurden in den letzten Jahren bereits abgeschafft. Das Rentenalter der Frauen wurde an das der Männer angepasst. Auch die Unterschiede bei den Witwenrenten dürfen laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte nicht mehr bestehen, aus Gründen der Gleichberechtigung. Und auch das Strafrecht ist heute weitgehend geschlechtsneutral. Es bleibt nur noch die Militärpflicht, bei der zwischen Männern und Frauen unterschieden wird.»

Zugehörigkeitsgefühl soll es richten

Diese Problematik will Geiser lösen, indem künftig nicht das biologische Geschlecht, sondern das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Geschlecht die Militärpflicht definiert: «Zum Militärdienst muss nicht, wer amtlich als Mann registriert ist, sondern wer sich als Mann fühlt.» Dass der Prof. Dr. Dr. hc damit aber die amtliche Kategorie «Mann», die er eben noch abschaffen wollte, gleichwohl als (amtliches) Kriterium wieder einführt, scheint ihn dabei so wenig zu bekümmern wie die Frage, wieviele Soldaten die Armee auf diese wohl noch rekrutieren könnte – und wie die Rekrutierung dann konkret vonstatten gehen würde:  Vielleicht per Einladungsschreiben: «Fühlen Sie sich als Mann? Dann registrieren Sie sich jetzt kostenlos für einen Termin bei Ihrem Aushebungsoffizier.»  

Würde Geiser seinem Konzept stringent folgen, müsste die Wehrpflicht hingegen vielmehr jeden jungen Menschen treffen, gleich welchen Geschlechts oder welcher Geschlechtsidentität folgend. – Leider verpasst es die SONNTAGSZEITUNG, hier kritisch nachzuhaken. Und eine Wehrpflicht für alle mag der Sozialdemokrat dann doch nicht zu fordern. 

Emanzipatorisch oder effektiv ein Rückschritt?

Auch auf viele andere komplexe Fragestellungen, die mit Geisers Vorschlag verbunden wären, geht die Zeitung nicht ein. Beispielsweise im Gesundheitswesen, wo vieles am biologischen Geschlecht anknüpft. Prostata-Operationen oder Behandlungen der Gebärmutter künftig also, egal welches biologische Geschlecht jemand hat? Oder im Fortpflanzungsgesetz: Wie soll ein solches Gesetz überhaupt noch möglich sein, wenn die Kategorien von Mann und Frau für den Staat gar nicht mehr existieren? Risikogerechte Krankenkassen-Prämien im halbprivaten oder privaten Bereich? Nicht mehr möglich, folgt man Geiser. – Ein Punkt, den man in feministischen Kreisen womöglich begrüssen würde. An anderen Stellen hätte Geisers Vorschlag für die Frauen aber entschiedene Nachteile:

So bleibt beispielsweise unklar, wie Geiser bei einer Abschaffung des amtlichen Geschlechts den Schutz der Frauen vor Diskriminierung sicherstellen wollte. Wenn für den Staat weder Frauen noch Männer existieren, können Frauen auch nicht gegen Lohndiskriminierungen klagen. Oder gilt dort dann auch das Geschlecht, mit dem sich eine Person identifiziert? Grosse Probleme ergäben sich aber auch für die Statistik: Wie sollten Unterschiede in den Geschlechtern, z.B. bei der Lebenserwartung, noch erfasst werden können, wenn für amtliche Stellen die Kategorien Mann und Frau wegfallen? Oder bei der Erfassung unterschiedlicher Löhne? 

Aber auch ganz praktische Fragen stellen sich: So verlangt beispielsweise die Internationale Flugsicherheitsbehörde IATA, dass bei jedem Flugticket zum Namen des Passagiers auch dessen Geschlecht festgehalten wird. Ein Alleingang der Schweiz könnte deshalb zu massiven Problemen mit Passagieren führen, die mit einem Reisepass ohne Geschlechtseintrag unterwegs sind. – Ganz zu schweigen von den Zollbehörden in Ländern mit weniger Verständnis für die Genderdebatten in einigen westlichen Demokratien.

Unterscheidungen nach Geschlecht immer noch weit verbreitet

In einem Rechtsgutachten  aus dem Jahr 2021 im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann listen die Autorinnen Anne-Sylvie Dupont und Zoé Seiler der Universität Genf auf 119 Seiten aus, wo Männer und Frauen im Gesetz unterschiedlich behandelt werden. Dem Gutachten liegt zwar tatsächlich ein konservatives Weltbild zugrunde: In dem Papier werden auch gesetzliche Regelungen speziell für Mütter oder Schwangere ausgewiesen. Solche Spezialregelungen wären tatsächlich bei Geisers Vorschlag nicht in Gefahr: Für eine grosse gesellschaftliche Mehrheit dürfte zwar eine Schwangerschaft noch immer eindeutig mit dem weiblichen biologischen Geschlecht verknüpft sein; es erscheint aber problemlos, dass Rechtsfolgen nicht am Geschlecht, sondern eben am Status der Schwangerschaft anknüpfen; dasselbe gilt grundsätzlich auch für Kategorien wie «Mutter» oder «Vater». Wenngleich sich hier auch wieder die Frage stellt, wie der Staat dann damit umzugehen hätte, wenn sich eine biologische Frau als «Vater» für ein Kind eintragen lassen wollte. 

Problematisch hingegen dürfte es für die weitere Finanzierung des Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann werden: Wenn die Kategorien Mann und Frau für den Staat nicht mehr existieren, wie rechtfertigt sich dann ein entsprechendes Büro? Betroffen wären aber auch andere Rechtsbereiche. Die Istanbul Konvention etwa verpflichtet die Schweiz, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Nur: Was soll bekämpft werden, wenn es rechtlich keine Frauen mehr gibt? Und wie können Frauen noch gefördert werden, wenn es sie vor dem Gesetze gar nicht gibt? Im Strafvollzug hätte Geisers Vorschlag dann wohl zur Folge, dass es keine Frauen- und Männergefängnisse mehr gäbe. Wie das ausginge?

Bund sieht durchaus mehr Probleme

Auf den Verweis des Journalisten der SONNTAGSZEITUNG, der Expertenbericht des Bundesrates käme zum Schluss, sowohl die Einführung eines dritten Geschlechts wie die Abschaffung des amtlichen Geschlechts würde zu Problemen führen, findet Geiser: «Die Experten sahen vor allem ein Problem bei der Software, mit der die Zivilstandsdaten erfasst werden. Aber technische Probleme sind doch kein Argument, die Lösung eines gesellschaftlichen Problems zu vertagen.»

Tatsächlich tönt es dem Bericht des Bundesrates vom Dezember 2022 allerdings etwas anders: «Als Ergebnis ist festzuhalten, dass (…) zahlreiche Bestimmungen auf Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsstufe sowohl des Bundes als auch der Kantone und Gemeinden anzupassen wären. Es müsste eine ausreichende Vorlaufzeit gewählt werden, um diese Regelungen anzupassen. Dies würde einen erheblichen gesetzgeberischen Aufwand verursachen und mehrere Jahre dauern. Ein Verzicht auf eine Anpassung dieser Regelungen würde hingegen in zahlreichen Bereichen eine Rechtsunsicherheit schaffen, die zuerst beseitigt werden muss.»

Bundesrat gegen Drittes oder die Abschaffung des Geschlechts

Der Bundesrat hatte im Dezember 2021 aufgrund mehrerer parlamentarischer Vorstösse einen Bericht zu der Frage vorgelegt, indem er die Frage prüfte, ob die Schweiz ein drittes Geschlecht (wie z.B. Deutschland) einführen solle – oder eben ganz auf einen Eintrag des Geschlechts im Zivilstandsregister verzichten soll. 

Der Bundesrat kam dabei zur Ansicht, der Aufwand für ein solches gesetzgeberisches Vorhaben wäre gross, weil auf allen Stufen – Bund, Kantone und Gemeinden entsprechende Anpassungen vorzunehmen wären. Zudem hielt der Bundesrat eine solche Neufassung für gesellschaftlich nicht mehrheitsfähig. 

INSIDE JUSTIZ hatte damals berichtet.

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