Thurgau: Keine Einbürgerung trotz Bundesgerichtsurteil

Die in den letzten Jahren stark in die Kritik gekommene Einbürgerungspraxis in der Schweiz, findet im Kanton Thurgau ein nächstes Beispiel staatlich willkürlichen Vorgehens. Dort will sich die Justizkommission über ein Bundesgerichtsurteil setzen.

Talal Aldroubi gewann (im Bild vor dem Bundesgericht In Lausanne). Fünfeinhalb Jahre kämpfte er gerichtlich für seine Einbürgerung, was schweizweit für Schlagzeilen sorgte. Dem Mann aus Syrien, der 12 Jahre lang in Romanshorn lebte und sich engagierte, wurde von der Gemeinde mehrfach die Einbürgerung verweigert. Dies, obwohl er gemäss eigener Auffassung alle notwendigen Erforderungen erfüllte. Also liess er seine Einbürgerung gerichtlich prüfen. Nachdem das Thurgauer Verwaltungsgericht das Gesuch ablehnte, erhielt Aldroubi am Bundesgericht, in letzter Instanz, Recht. Das Urteil 1D_5/2022 vom 25. Oktober 2023 wurde in der Besetzung: Bundesrichter Lorenz Kneubühler, Präsident (SP) François Chaix (FDP), Stephan Haag (GLP) , Thomas  Müller (SVP), Christian Kölz (Grüne) und der Gerichtsschreiberin Annina Dillier.

Gesuchsablehnung wegen Alimentenbevorschussung

Der Grund, der in allen anderen Instanzen für die Ablehnung seines Gesuches angeführt wurde, ist eine Alimentenbevorschussung durch seine frühere Wohngemeinde. Bei der Alimentenbevorschussung schiesst die Gemeinde die Alimentenzahlung vor, wenn Elternteile in gewissen Phasen nicht über die benötigten finanziellen Mittel verfügen ­– ein gängiges Mittel zur Sicherung des Kindswohls also. Die Gemeinde hatte ihm dadurch einen Schuldschein über 11’500 Franken ausgestellt. Aldroubi einigte sich auch mit dieser, das Geld zurückzuzahlen. Dafür wurden die Schuldscheine aus dem Betreibungsregister gelöscht.

Die prüfenden Vorinstanzen sahen in diesem Punkt jedoch schon einen Verstoss gegen das Einbürgerungskriterium der «geordneten finanziellen Verhältnisse». Aldroubi empfand dies als höchst ungerecht und ging gerichtlich gegen den Entscheid vor.

Das Bundesgericht gab ihm recht. Die Einbürgerungskommission Romanshorn wurde durch das Urteil angewiesen, Talal Aldroubi und seine beiden Kinder einzubürgern. Und tatsächlich wurde ihm danach im November 2023 das Gemeindebürgerrecht erteilt. Im Mai 2024 erhielt er vom Staatssekretariat für Migration die eidgenössische Einbürgerungsbewilligung. Nur noch das Kantonsbürgerrecht fehlte.

Justizkommission empfiehlt trotzdem Ablehnung

Wie der „Beobachter“ berichtet, bahnt sich im Grossen Rat Thurgau nun etwas Absurdes an: Die Justizkommission stellt dem Grossen Rat, trotz Bundesgerichtsentscheid, den Antrag, Aldroubis Gesuch abzulehnen.

Das ist extrem unüblich. Das mehrstufige Einbürgerungsverfahren ist kompliziert. Den grössten Teil der Arbeit erledigen die Kantonsverwaltung und die Einbürgerungskommission der Gemeinde, wo Integration, Sprachkenntnisse, Strafakten, finanzielle Verhältnisse und noch etliche weitere Dinge geprüft werden. Ist nur an einer Stelle in den Augen der Beamt:innen etwas nicht korrekt, wird die Einbürgerung verweigert ­– eine Praxis, die höchst anfällig für staatliche Willkür ist und deswegen immer wieder in der Kritik steht. Das allerletzte Glied in dieser Kette der Stellen, die der Einbürgerung zustimmen muss, ist im Thurgau der Grosse Rat. Alleine das ist speziell, erteilt das Kantonsbürgerrecht in St. Gallen die Regierung, in Zürich die Verwaltung. Die Justizkommission des Grossen Rats geht normalerweise nicht nochmal alles durch, wurde das ja alles bereits getan. Aus dem Kanton Zürich ist bekannt, dass nur noch einmal der Strafregisterauszug und die laufenden Verfahren geprüft. Eine Pro-Forma-Sache könnte man meinen.

Die Justizkommission des Grossen Rats geht diesmal aber einen anderen Weg. Die Kommission, deren Mehrheit aus SVP- und FDP-Vertreter:innen besteht, schlägt das Gesuch zur Ablehnung vor. Die Kommission stützt sich dabei auf das genau gleiche Argument wie die früheren Instanzen: der Schuldschein.

Präsidentin äussert sich nicht

Für Aldroubi, der seit 2006 in der Schweiz lebt, ein Schock: «Wie kann es sein, dass sich die Justizkommission über einen Entscheid des Bundesgerichts hinwegsetzt?»

Auch der Anwalt Aldroubis sagt gegenüber dem Beobachter: «Dieser Vorgang ist erstaunlich und besorgniserregend zugleich.»

Das Urteil des Bundesgerichts ist überdeutlich. Es seien andere Einbürgerungskriterien – das Gericht hob insbesondere Integration, Deutschkenntnisse, verschiedene Arbeitsbemühungen und eine geplante Ausbildung als Dolmetscher hervor – erfüllt. Beim Schuldschein hält das Bundesgericht klar fest: Die Begründung der finanziell instabilen Verhältnisse ist «willkürlich» und «haltlos». 

«Dass sich die Justizkommission des Kantons Thurgau darüber hinwegsetzt, werte ich als Angriff auf die Schweizer Rechtsordnung und als Affront gegenüber dem Bundesgericht», so der Anwalt. 

Auf Anfrage des „Beobachters“, will sich die Präsidentin der Justizkommission, FDP-Kantonsrätin Michèle Strähl-Obrist (Bild mit Hund), jedoch nicht dazu äussern, weshalb nun mit der gleichen Argumentation das Gesuch abgelehnt werden soll. Die Justizkommission äussere sich als vorberatende Kommission nicht zu laufenden Einbürgerungsverfahren, so die FDP-Politikerin. 

Thurgau bürgert weniger oft ein

Das Einbürgerungssystem in der Schweiz ist föderal geregelt und in jeder Gemeinde gelten unterschiedliche Bestimmungen. So variieren vor allem die Zahlen, wie lange man schon wo leben muss. Auch die Beurteilungen, wie gut jemand integriert sei, werden unterschiedlich ausgelegt. In manchen Gemeinden wird sogar noch darüber abgestimmt, wer eingebürgert wird wer nicht. Auch kantonale Bestimmungen sind ausschlaggebend. So berichtete das Thurgauer Tagblatt 2023 darüber, dass im Thurgau weniger oft eingebürgert wird, als andernorts in der Schweiz, nämlich 1.4 pro 100 niedergelassenen Ausländer:innen. Gesamtschweizerisch liegt die Zahl bei 1.8. Die grösste Hürde sei dabei die Sprache. Die Anforderungen sind im Thurgau, wie auch in Schwyz und Nidwalden höher als in den meisten anderen Kantonen.

Im Thurgau haben es nicht unlängst noch weitere Fälle für Aufsehen gesorgt, bei denen die Nichteinbürgerung nur schwer nachvollziehbar ist. Erst vor drei Wochen berichtete das Thurgauer Tagblatt über den Fall eines kosovarischen Ehepaars, das seit 17 Jahren in Uttwil lebt und dem dort von der Gemeindeversammlung erneut die Einbürgerung verweigert wurde.

2022 wurde zudem über ein Einbürgerungsgesuch berichtet, das vom Grossen Rat abgelehnt und im letzten Moment verweigert wurde. Der Grund damals: „keine geordneten finanziellen Verhältnisse“, konkret: Alimentenschulden.

 Wie geht es nun weiter?

Der Anwalt von Talal Aldroubi hat mittlerweile eine Stellungnahme an die 130 Kantonsrät:innen verschickt, in der er an das Bundesgerichtsurteil erinnert. Der Grosse Rat entscheidet über das Gesuch am 23. Oktober 2024. 

Sollte der Grosse Rat das Gesuch tatsächlich ablehnen, müsste der 46-Jährige den Entscheid noch einmal anfechten. Dann müsste das Bundesgericht erneut – und auf genau gleicher Basis – über das Einbürgerungsgesuch urteilen. Vor dem Hintergrund dieser Faktenlage könnte dieser Prozess für den Kanton Thurgau mit noch einer Anweisung enden und Talal Aldoubi und seine Kinder nach jahrelangem Kampf das Bürgerrecht erhalten.

D_5/2022 25.10.2023

Auszüge aus dem Bundesgerichtsurteil gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 10. August 2022 (VG.2022.23/E)

1.4. Die Gemeinde verfügt beim Entscheid über eine ordentliche Einbürgerung über ein gewisses Ermessen. Obwohl diesem Entscheid auch eine politische Komponente innewohnt, ist das Einbürgerungsverfahren kein rechtsfreier Vorgang, wird doch darin über den rechtlichen Status von Einzelpersonen entschieden. Zu beachten sind daher die einschlägigen Verfahrensbestimmungen. Die Gemeinde darf nicht willkürlich, rechtsungleich oder diskriminierend entscheiden und muss ihr Ermessen insgesamt pflichtgemäss ausüben.

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4.5. Vorliegend ist unstreitig, dass der Beschwerdeführer die ihm gerichtlich auferlegten Unterhaltszahlungen seit Gesuchseinreichung pünktlich und als Ergänzung zu den IV-Kinderrenten jeweils vollständig bezahlt. Es ist nicht Aufgabe der Einbürgerungsbehörde, einen von den Zivilgerichten zugesprochenen Kindesunterhalt zu hinterfragen; eine solche Überprüfung ist den Zivilgerichten zu überlassen.

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6.  Nach dem Gesagten erweist sich die vom Beschwerdeführer gerügte Gesamtwürdigung als unhaltbar und damit willkürlich. 


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6.1. Die Einbürgerungsvoraussetzungen und insbesondere die Integrationsanforderungen müssen insgesamt verhältnismässig und diskriminierungsfrei sein und sie dürfen nicht überzogen erscheinen (vgl. Urteil 1D_7/2019 vom 18. Dezember 2019 E. 3.4). Dabei dürfen die kantonalen und kommunalen Behörden zwar den einzelnen Kriterien eine gewisse eigene Gewichtung beimessen. Insgesamt muss die Beurteilung aber ausgewogen bleiben und darf nicht auf einem klaren Missverhältnis der Würdigung aller massgeblichen Gesichtspunkte beruhen (BGE 146 I 49 E. 4.4). Die Fokussierung auf ein einziges Kriterium ist unzulässig, es sei denn, dieses falle, wie etwa eine erhebliche Straffälligkeit, bereits für sich allein entscheidend ins Gewicht.

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6.2. Der Beschwerdeführer lebt seit über 17 Jahren in der Schweiz und hat seinen Wohnsitz seit rund 11 Jahren in Romanshorn. Er erfüllt sämtliche Einbürgerungsvoraussetzungen mit einem gewissen Vorbehalt hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration. Diese Mängel sind jedoch nicht derart gewichtig, dass sie für sich alleine einer Einbürgerung entgegenstehen. Es liegt höchstens ein geringfügiger Mangel vor, der durch die übrigen Kriterien mehr als aufgewogen wird. Die Verweigerung der Einbürgerung beruht auf einem klaren Missverhältnis bei der Abwägung der materiellen Einbürgerungsvoraussetzungen. Der Beschwerdeführer erfüllt alle anderen Kriterien einwandfrei (vgl. E. 2.2, 4.5 und 5 hiervor). Die leichten Defizite hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration haben die Vorinstanzen und die Einbürgerungskommission in unsachlicher Weise derart stark übergewichtet, dass von einer ausgewogenen Gesamtbetrachtung keine Rede mehr sein kann. Mitzuberücksichtigen ist auch das soziale Engagement des Beschwerdeführers in der Kirche und seine aktive Beteiligung am Gemeindeleben. Wie das DJS bereits festgestellt hat, ist der Beschwerdeführer mit seinem Angebot an Esswaren seit Jahren an jährlich stattfindenden Märkten und Veranstaltungen präsent und hat wohltätige Anlässe mitorganisiert, an solchen gekocht und mitgeholfen (namentlich Terres des Hommes Syrien, KUL-Tour [Prolatina], Solinetz, Tischlein deck dich). Aufgrund einer Gesamtwürdigung ist es unhaltbar, den Beschwerdeführer nicht einzubürgern. Damit erweist sich der angefochtene Entscheid im Ergebnis als willkürlich.  

Damit erweist sich der angefochtene Entscheid im Ergebnis als willkürlich. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 10. August 2022 wird aufgehoben. Die Einbürgerungskommission der Politischen Gemeinde Romanshorn wird angewiesen, dem Beschwerdeführer sowie seinen beiden Kindern, B. und C. das Gemeindebürgerrecht zu erteilen.

Lausanne, 25. Oktober 2023 

2 thoughts on “Thurgau: Keine Einbürgerung trotz Bundesgerichtsurteil

  1. Eben nicht, Herr Eidgenosse…schon mal was von Rechtsstaatliche Garantie gehört wie z.b Art. 9. BV?

    Art. 9. Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben. Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
    Den Kern des bundesverfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes bilden das Willkürverbot und die Menschenwürde. Das Willkürverbot untersagt jegliche Schikane und jedwede Behandlung, die dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Die Menschenwürde sichert die Individualität und die Gleichheit eines Jeden. Beiden Garantien wohnt der Gedanke die Subjektqualität des Menschen inne; sie bewahren ihn davor, zum Objekt staatlicher Herrschaft zu verkommen.
    ( Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage.)

  2. Das ist auch Richtig so – der Schweizer Bürger hat das letzte Wort und nicht das Bundesgericht – es gibt viel zu viele Einbürgerungen in der Schweiz.

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