Wer auf einen SRG-Beitrag im Internet oder einem Social Media-Kanal einen Kommentar schreibt, kann gerichtlich vorgehen, falls dieser von der Redaktion gelöscht wird. Das hat das Bundesgericht in einem Urteil vom 29. November entschieden, wie es in einer Medienmitteilung schreibt. Das schriftliche Urteil liegt noch nicht vor.
Im konkreten Fall ging es um einen Kommentar unter dem Beitrag «Deutschland schafft kostenlose Corona-Tests ab», den SRF News am 10. August 2021 auf Instagram verbreitet hatte. Eine Zuschauerin hatte den Beitrag kommentiert, der Kommentar wurde von der Redaktion wenige Stunden später gelöscht, mit dem Verweis, er verstosse gegen die «Netiquette». Die Autorin des Kommentars wurde in der Folge sowohl bei der Ombudsstelle der SRG als auch bei der UBI abgewiesen. So gelangte sie ans Bundesgericht, das nun als erste Instanz auf die Beschwerde überhaupt eingetreten und diese nach einer öffentlichen Beratung gutgeheissen hat.
Die Kommentarfunktion zu redaktionellen Beiträgen in Online-Foren und auf Social Media Kanälen gehöre zum publizistischen Angebot der SRG, hält das Bundesgericht gemäss Medienmitteilung fest. Die Kommentarfunktion diene dem Meinungsaustausch und der Meinungsbildung «rund um den redaktionellen Beitrag».
Wenn die SRG ausserhalb ihres Programms solche Foren für Meinungsäusserungen anbiete, müsse sie «möglichst grundrechtskonfrom handeln und ihrer Rolle als gesamtschweizerisch konzessionierte Anbieterin im Radio- und Fernsehbereich Rechnung tragen.» Mit der Löschung von Kommentaren oder dem individuellen, vorübergehedndenden oder dauernden Ausschluss von Personen von der Kommentarfunktion greift die SRG in die Meinungsäusserungsfreiheit der Betroffenen ein. Damit müsse ein Rechtsweg offenstehen, der den Anforderungen der Bundesverfassung genüge. Als solcher stehe kein anderer zur Verfügung als das Beschwerdeverfahren über Ombudsstelle und UBI.
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Wahrscheinlich kennen viele den Frust: Man nimmt sich die Mühe, in einem der Foren eines Schweizer Presseerzeugnisses einen Kommentar abzugeben, dieser wird aber nie veröffentlicht oder später wieder gelöscht. Obwohl der Text niemanden beleidigt hatte, sondern veilleicht einfach auf den Punkt formuliert war. Es reicht, wenn die vertretene Meinung nicht mit derjenigen der Redaktion – oder auch nur des Praktikanten, welcher die Leserkommentare sichtet – übereinstimmt. Diese weit verbreitete Praxis, die auch von grossen Titeln wie z.B. dem TAGESANZEIGER oder eben SRF gepflegt wird, ist in der Tat eine Unsitte und einem positiven Image und der Glaubwürdigkeit der Medien wenig zuträglich.
Der Weg, den das Bundesgericht nun einschlägt, ist allerdings so absurd, dass man sich fragen muss, ob der Spruchkörper im Vollbesitz seiner kognitiven Kräfte war, als er die Sache diese Woche verhandelte. Zunächst einmal ist zu fragen, was die Meinungsäusserungsfreiheit überhaupt umfasst. Bislang gehörte der Anspruch, einen bestimmten Verbreitungsvektor für die Multiplikation der eigenen Meinungsäusserung benutzen zu können (hier: das Forum unter einem Beitrag auf Social Media), nicht zum Kerngehalt der Meinungsäusserungsfreiheit. Und der Gedanke ist auch einigermassen absurd, führte das doch am Ende dazu, dass jeder bei jedem Beitrag verlangte könnte, dass seine Meinung dazu abgedruckt werden müsste.
Des weiteren vergisst das Bundesgericht, dass die Meinungsäusserungsfreiheit zwar vom Staat und dem Recht zu schützen ist, wie praktisch alle Grundrechte aber keine unmittelbare Drittwirkung im Verkehr unter Privaten entfaltet. Niemand kann sich auf die Versammlungsfreiheit berufen, um im Garten des Nachbars eine Anti-WM-Demonstration durchzuführen. Die SRG ist ein Verein, als eine private Organisation und (hoffentlich!!!) nicht der verlängerte Art des Staates. Eine direkte Anwendbarkeit der Meinungsäusserungsfreiheit als einforderbares Recht gegenüber der SRG ist deshalb völlig absurd.
Das Bundesgericht argumentiert weiter damit, dass sich die SRG als gesamtschweizerisch konzessionierte Anbieterin im Radio- und Fernsehbereich hier möglichst «grundrechtskonform» verhalten müsse. Es knüpft also an die Konzession die Bedingung, jedem und jeder die Möglichkeit zu geben, im Rahmen von Online-Foren ihre Meinung äussern zu dürfen. Eine solche Vorgabe ist freilich in der Konzession natürlich in keinster Art und Weise gegeben. Und dann vergisst das Bundesgericht schlicht, dass die SRG für seine Radio- und TV-Berichte konzessioniert ist, nicht für das Führen von Online-Diskussionen mit geneigten ( und weniger geneigten) Zuschauerinnen und Zuschauern.
Gleichermassen unbehelflich ist der Hinweis, die SRG sei «ausserhalb» ihrer Programme zu dieser direkten Anwendbarkeit der Meinungsäusserungsfreiheit verpflichtet. Das Bundesgericht sagt damit aus, dass es diese Verpflichtung also «innerhalb» ihrer Programme nicht gibt. Eine Begründung für diese in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht nicht nachvollziehbaren Unterscheidung geben die Lausanner Richterinnen und Richter nicht. Warum, ist klar: Würde die Forderung auch innerhalb der Programme gelten, wäre damit die Programm-Autonomie von Art. 6. RTVG für alle Zeiten ausgehebelt. Sie garantiert der SRG das Recht, in ihren Programmen im Rahmen der Konzession selbst auszuwählen, welche Personen sie zu welchem Thema zu Wort kommen lässt. Warum aber bei den Diskussionsforen diese Programm-Autonomie nun plötzlich nicht mehr gelten soll, macht nicht nur keinen Sinn, es führt am Ende zu einer massiven Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit.
Die Konsequenzen des Urteils sind nämlich absehbar: Um einer Beschwerdeflut der frustrierten Kommentar-Schreiberinnen und Schreiber zu entgehen, bleibt der SRG kaum etwas anderes übrig, als die Diskussionsforen ganz zu schliessen und gar nicht mehr anzubieten.