Es war ein Fall, der die Öffentlichkeit erschütterte und die Justiz vor eine ihrer grössten Herausforderungen stellte. Im März 2023 verurteilte das Bezirksgericht Zürich den Bauunternehmer Alois V. zu zehn Jahren Freiheitsstrafe – das erste Urteil in der Deutschschweiz wegen Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung.
Die Liste der Vorwürfe gegen den Unternehmer liest sich wie ein düsteres Kapitel moderner Sklaverei: Arbeiter aus Osteuropa wurden mit falschen Versprechungen in die Schweiz gelockt, unter menschenunwürdigen Bedingungen gehalten und mit Hungerlöhnen abgespiesen. Während Alois V. Millionen verdiente, lebten seine Angestellten in Armut. Doch hinter dem historischen Urteil verbergen sich schwerwiegende Fehler und Versäumnisse, die nun vor dem Zürcher Obergericht aufgearbeitet werden. Ein Blick hinter die Kulissen der Justiz, die den Zürcher Steuerzahler bereits viel Geld gekostet hat und wohl noch weitere Millionen kosten wird. Inmitten des Debakels ein Pflichtverteidiger, der die Hauptschuld auf sich nehmen muss.
Im Zentrum der Kritik stehen nicht nur die Taten des Angeklagten, sondern auch die Rolle der Behörden, der Staatsanwaltschaft und vor allem die des früheren Pflichtverteidigers. Die Verteidigung spricht von einem Justizskandal: Der bekannte Zürcher Jurist, der Alois V. verteidigen sollte, habe grundlegende Aufgaben vernachlässigt, während sich die Staatsanwältin Runa Meier mit einem richtungsweisenden Urteil profilieren wollte. Das Ergebnis: ein spektakuläres Verfahren mit einem Schuldspruch, den es so nicht hätte geben dürfen. Nun droht ein Neubeginn – mit weitreichenden Konsequenzen für die Opfer, die Justiz und die Steuerzahler. Unser Bild zeigt eine Szene aus der Anwaltsserie: “The Lincoln Lawyer”.
Das Urteil und ein Pflichtverteidiger für 268’000 Franken
10 Jahre Gefängnis, 6000 Franken Geldstrafe, 25’000 Franken Gerichtskosten und rund 100’000 Franken Schadenersatz für die Büezer. Das war das Ergebnis einer historischen Verhandlung am Bezirksgericht Zürich. Das erste Mal in der Deutschschweiz wurde jemand wegen Menschenhandels verurteilt, jubelte die Zeitung WORK am 3.11.2023. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Das erstinstanzliche Verfahren hätte so niemals durchgeführt werden dürfen. Denn der Pflichtverteidiger, der eine unglaublich grosse Nähe zur Staatsanwältin Runa Meier pflegte, hat laut einem Gutachten seinen Job so schlecht gemacht, dass der erste Prozess gar nicht hätte stattfinden dürfen.
Trotzdem kassierte der Pflichtverteidiger, der nur einen Monat vor dem Prozess den Job aufkündigte, über eine Viertelmillion Franken an Honoraren, um am Schluss alle Akten dieses Fall zu vernichten. Damit brachte er seinen Nachfolger in eine unmögliche Lage. Eine saubere Vorbereitung auf den Prozess war – ohne genügend Zeit und ohne Dokumente – nicht möglich. Dennoch wurde der Prozess eröffnet und endete mit einem spektakulären Urteil des inzwischen pensionierten Richters Sebastian Aeppli.
Der Fall eines skrupellosen Geschäftsmannes?
Die mediale Resonanz auf das Urteil war überwältigend. Gewerkschaftszeitungen wie Work und Boulevardmedien wie der Blick oder 20Min. prangerten Alois V. als „Vier-Franken-Lohn-Chef“ an und schilderten seine Vergehen in drastischen Worten. Die Gewerkschaft Unia, die massgeblich zur Aufdeckung des Falls beigetragen hatte, feierte das Urteil gegen die Ausbeutung auf dem Bau.
Besonders brisant ist aber die Rolle der zuständigen Behörden. Die Ermittlungen ergaben, dass zwischen 2012 und 2017 über 70 Meldungen und Anzeigen gegen Alois V. eingegangen waren. Diese wurden von verschiedenen Stellen an die zuständigen Behörden weitergeleitet, unter anderem an das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürich. Doch trotz eindeutiger Hinweise, darunter auch ein «Verdacht auf betrügerische Handlungen», blieb Alois V. unbehelligt. Erst die Intervention eines Poliers und der Gewerkschaft Unia brachte schliesslich eine Untersuchung ins Rollen.
Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Anklage auf eine Fülle von Beweisen, darunter abgehörte Telefongespräche, die das Verhalten von Alois V. dokumentieren sollten. In diesen Gesprächen bezeichnete er seine Arbeiter als «Sklaven» und sprach davon, sie «wie in einem KZ» behandeln zu wollen. Auch die Analyse seiner Finanztransaktionen offenbarte eine klare Prioritätensetzung: Während Millionenbeträge auf Firmenkonten flossen, wurden weder Steuern noch Sozialabgaben gezahlt, stattdessen ein Ferrari und Privatjetreisen finanziert.
Das warf ihm die Staatsanwältin alles vor:
- Stundenlöhne von vier bis neun Franken, weit unter dem Mindestlohn.
- Desolate Unterkünfte in schimmeligen und heruntergekommenen Häusern, teilweise ohne funktionierende sanitäre Anlagen.
- Permanente Drohungen und Einschüchterungen, die von körperlicher Gewalt bis hin zu Morddrohungen reichten.
In insgesamt 24 Fällen machte die Staatsanwältin Menschenhandel geltend. Insgesamt sollen aber bis zu 100 Arbeiter ausgebeutet worden sein. Mit mindestens fünf Trockenbau- und anderen Firmen habe der Beschuldigte Millionen umgesetzt. Oft als Subunternehmer von Konzernen wie Implenia oder HRS. An Steuerbehörden und Sozialversicherungen soll der einschlägig Vorbestrafte keinen roten Rappen abgeliefert haben. So zumindest stand es in der Anklageschrift.
Das Geschäftsmodell des Bauunternehmers sei ebenso einfach wie skrupellos gewesen: Die Arbeiter wurden «gut behandelt», bis sie sich eingelebt hatten. Dann wurden die Löhne gekürzt und die Arbeitsbedingungen verschärft. Wer sich wehrte, wurde bedroht oder entlassen. Gleichzeitig führte der Alois V. ein Luxusleben mit regelmässigen Aufenthalten im «Dolder Grand», mit teuren Autos und Shoppingtouren an der Zürcher Bahnhofstrasse.
Die Rolle der Staatsanwältin und das massive Urteil
Im Zentrum des ersten Verfahrens stand auch Staatsanwältin Runa Meier, die sich mit dem Fall einen Namen machen wollte. Meier wollte mit einem wegweisenden Urteil zur Bekämpfung von Menschenhandel in der Schweiz beitragen. Ihr Engagement für das Thema wurde von vielen gelobt, doch hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass sie den Fall auch als Karrieresprungbrett nutzte. Ein solches Urteil, so heisst es, könnte ihr nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern auch den Weg zum Bundesgericht ebnen. Sie forderte eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und vier Monaten.
Der erst kurz vor dem erstinstanzlichen Prozess neu bestellte Pflichtverteidiger plädierte dagegen in den meisten Punkten auf Freispruch. Sein Mandant sei zwar «ein schlechter Arbeitgeber», aber kein Menschenhändler. Alois V. sei deshalb lediglich wegen Misswirtschaft und ausländerrechtlicher Nebendelikte zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten zu verurteilen. Die Ermittlung seien einseitig geführt worden, argumentierte er im Prozess. Und kritisierte, dass es von Anfang an das Ziel der Staatsanwaltschaft gewesen sei, seinen Mandanten als Menschenhändler vor Gericht zu bringen.
Dem habe die Anklage alles untergeordnet und mit substanzlosen und einseitigen Aussagen ein Feindbild geschaffen. Der ganze Fall sei dadurch aufgebauscht worden: «Es fand keine Zwangsarbeit und keine Ausbeutung statt.» Die betroffenen Arbeiter seien freiwillig in die Schweiz gekommen und hätten das Land jederzeit wieder verlassen können. Es sei zwar richtig, dass sein Mandant keine oder nicht die vereinbarten Löhne bezahlt habe, dies sei aber aus Überforderung geschehen. Es sei nie seine Absicht gewesen, die Arbeiter auf diese Weise gefügig zu machen. «Es handelt sich hier nicht um Menschenhandel», so der Anwalt. Die Staatsanwaltschaft sei einem klassischen Rückschaufehler erlegen: «Sie erkennt schlechte Arbeitsbedingungen und Probleme bei der Lohnzahlung und schliesst daraus, dass mein Klient die fraglichen Arbeiter von Anfang an zum Zwecke der Ausbeutung angeworben hatte.»
Zudem kritisierte der Verteidiger die Untersuchungshaft von 2017 bis 2020 als «unverhältnismässig lang». Von Alois V. selbst gibt es kein Statement, da er dem Prozess fernblieb. Allerdings bezeichnete er das Verfahren bereits im Januar 2023 als «Justizskandal» und als «Steuergeldvernichtung». Dies geht aus einer E-Mail hervor, das er an alle Zürcher Kantonsratsmitglieder verschickte. Weil der 42-jährige Unternehmer fast drei Jahre in Untersuchungshaft sass, forderte er eine Entschädigung von rund 280 000 Franken.
Schuldig
Das Bezirksgericht Zürich unter dem Vorsitz von Sebastian Aeppli sah die Sache jedoch ganz anders und verurteilte Alois V. zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren – eine Strafe, die weit über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinausging.
Aeppli, Richter der Grünen, begründete dies mit der Schwere der Taten und der langen Liste an Vorstrafen. Es handle sich um ein „Präzedenzfall“, der die Bedeutung der Bekämpfung der Arbeitsausbeutung unterstreiche. „Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich eine harte Bestrafung“, erklärte Richter Aeppli damals in der Urteilsbegründung. Die Medien reagierten überwiegend positiv, vor allem die Gewerkschaften stellten Alois V. als Symbol für die Missstände auf dem Bau dar. Auch die Zeitung der Gewerkschaft UNIA wetterte in weiteren Artikeln gegen den «brutalen Büezerschinder». Und klopfte sich stolz auf die Gewerkschaftsbrust: «Vor sieben Jahren machte die Unia die brutale Ausbeutung von drei ungarischen Gipsern publik. Jetzt ist ein ganzes System aufgeflogen – und der wohl grösste Fall von Menschenhandel im Schweizer Baugewerbe.
Die Schattenseiten des Verfahrens
Doch hinter dem spektakulären Urteil verbirgt sich eine erschütternde Wahrheit: Der Prozess war von Anfang an mit schwerwiegenden Fehlern behaftet. Im Zentrum der Kritik steht die Rolle des Pflichtverteidigers, dessen Versagen die Rechte seines Mandanten massiv verletzt haben soll. Der Zürcher Anwalt, der Alois V. während der Untersuchungsphase als Pflichtverteidiger zur Seite stand, wird nun von seinem neuen Verteidiger heftig kritisiert. Der in den Medien oft als Experte auftretende Zürcher Jurist habe grundlegende Aufgaben eines Verteidigers vernachlässigt, was zu gravierenden Verfahrensmängeln geführt habe:
- Keine Akteneinsicht: der Pflichtanwalt versäumte es, alle relevanten Beweismittel einzusehen und zu analysieren, eine Grundvoraussetzung für eine wirksame Verteidigung.
- Fehlende Prozessstrategie: Laut neuem Verteidiger habe sein Vorgänger es unterlassen, eine kohärente Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Stattdessen überliess er seinen Mandanten in zentralen Fragen sich selbst.
- Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft: Es wird behauptet, dass der alte Pflichtverteidiger in einer Weise mit der Staatsanwaltschaft kooperierte, die das Vertrauen seines Mandanten untergrub und zu einseitigen Erhebungen führte.
Verfahrensfehler und ihre Konsequenzen
Das Plädoyer des neuen Verteidigers von Alois V. fordert nichts weniger als die Rückweisung des Falles an die Staatsanwaltschaft. Alle Beweise, die unter der Verantwortung des alten Pflichtverteidigers erhoben worden waren, sollen für unzulässig erklärt werden. Dies würde bedeuten, dass das Verfahren de facto von vorne beginnen müsste – ein Szenario, das nicht nur die Opfer, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Zürcher Justiz schwer belasten würde.
Ein weiterer zentraler Punkt der Verteidigung ist die persönliche und emotionale Belastung von Alois V. Laut dem neuen Verteidiger habe Alois V. aufgrund traumatischer Erlebnisse in seiner Kindheit eine tiefe Skepsis gegenüber Behörden entwickelt. Diese Umstände hätten nicht nur sein Verhalten im Verfahren geprägt, sondern müssten auch bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.
Wegweisendes Urteil – oder ein Justizskandal?
Der Fall Alois V. könnte als Präzedenzfall im Kampf gegen Arbeitsausbeutung in die Geschichte eingehen. Gleichzeitig wirft er aber auch grundsätzliche Fragen über die Qualität der Verteidigung und die Fairness des Verfahrens auf. Während das Zürcher Obergericht nun über die Zukunft des Urteils entscheidet, wird klar: Dieser Fall ist nicht nur eine Mahnung an die Arbeitgeber, sondern auch an die Justiz, ihre Standards zu überprüfen.
NACHTRAG: Der Beschuldigte legte Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil vom März 2023 ein und verlangte eine Neubeurteilung des Sachverhalts vor Obergericht. Die entsprechende, auf diese Woche anberaumt gewesene Berufungsverhandlung konnte nicht stattfinden und wurde verschoben.
Lesen Sie in unserer nächsten Geschichte zum Thema:
Das vernichtende Gutachten. Wie die Justiz mit einem Pflichtverteidiger «kollaborierte» und so ein faires Verfahren verunmöglichte. Und wie ein Pflichtverteidiger 267’00 Franken Honorare abrechnen konnte und am Schluss alle Dokumente vernichtete.