„Der Handlauf“ oder Geschichten aus dem Reich des Wahnsinns

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die nachfolgende Geschichte über eine Kündigungsdrohung wegen 1.50 Franken sollte eine kurze Glosse zum bürokratischen Wahnsinn in der Schweiz werden. Doch einmal eingetaucht in die SMD (Schweizerische Mediendatenbank), flogen uns weitere Geschichten um die Ohren, die zeigten, dass unsere kleine Geschichte aus Zürich nur ein Kiesel im Berg der Schweizer Unvernunft ist. Aber urteilen Sie selbst!

Manche Geschichten sind so absurd, dass man sie einfach erzählen muss. Diese Woche erreichte uns ein empörter Brief eines Lesers, der uns den jüngsten bürokratischen Wahnsinn der Stadt Zürich schilderte. «Unsere Liegenschaftsverwaltung hat offenbar nichts Besseres zu tun, als eine Kündigungsandrohung für eine Parkbox am Höfliweg in 8055 Zürich auszusprechen. Und warum? Es geht um einen Betrag von 1.80 CHF, der im Zuge der Mehrwertsteuerumstellung nicht bezahlt wurde.»

Teure Arbeitszeit

Man stelle sich vor: Das Porto für die Kündigungsandrohung belief sich auf 5.80 CHF. Und von der kostbaren Arbeitszeit der städtischen Beamten ganz zu schweigen. Hier bleibt offenbar jeglicher Verstand auf der Strecke. Der nur mässig begeisterte Leser schrieb den Beamten: „Wir entschuldigen uns in aller Form, dass wir der Stadt Zürich diesen immens wichtigen Betrag vorenthalten haben. Aber wir wollen hier nicht kleinkariert sein. Wir haben nicht nur die 1.80 Franken nachgezahlt, sondern grosszügigerweise auch noch 1,81 Franken dazu. Wir sind überzeugt, dass dieser Rappen weise für die Interessen der Stadt Zürich eingesetzt wird. Vielleicht wäre es an der Zeit für einen neuen Briefbogen? Oder vielleicht sogar eine halbe Tasse Kaffee für die hart arbeitenden Beamten?

Doch lassen Sie uns nicht nur bei dieser Farce bleiben. Werfen wir einen Blick in die Geschichte, um ähnliche Beispiele bürokratischer Meisterwerke aus der Schweiz zu entdecken. Wir sollten nicht vergessen, dass die Beamten früher die Farbe der Haustüren vorschrieben, um die „ästhetische Einheit” zu wahren. Oder als die Bürokratie entschied, dass jeder, der einen Baum fällen wollte, einen langen Genehmigungsprozess durchlaufen musste – natürlich nicht ohne die entsprechenden Gebühren.

Weitere Geschichten

Solche und ähnliche Geschichten treffen immer wieder auf den Radar der Öffentlichkeit. Ein aktuelles Beispiel kommt aus der Gemeinde Siglistorf im Kanton Aargau. Ein Mann frisch geschieden ist auf der Suche nach einem günstigen Häuschen mit Potenzial, um es gemeinsam mit seinen beiden Söhnen renovieren zu können. Bei einem alten, schmucken Bauernhäuschen wird er fündig. Er baut es mit seinen Söhnen um, doch die Fassade bröckelt. Die Gemeinde Siglistorf verfügt über eine Bauverwaltung, doch alle Expertisen werden an ein externes Ingenieurbüro ausgelagert und den Bauwilligen direkt in Rechnung gestellt – und zwar vor der Baueingabe. Ein auf Baurecht spezialisierter Anwalt hat gegenüber dem „Blick” bestätigt, dass dieses Vorgehen nicht rechtmässig ist. „Ich finanziere mit meinen Steuern eine Bauverwaltung, die Arbeiten, die sie selbst machen sollte, auslagert und mir wiederum in Rechnung stellt. Das ist ein Skandal!”

Baubewilligung ohne Bauten: In der Schweiz gibt es viel zu wenige Stellplätze für Wohnmobile und Camper. Deshalb bieten Bauern ihre Hofplätze für Kurzferien an. Ein Beispiel sind Corinne und Andreas Henz aus Bärschwil SO. Im Juni 2021 berichteten sie dem „Blick”, dass sie zwei Stellplätze für Wohnmobile anbieten wollten. So konnten sie nicht nur etwas dazuverdienen, sondern auch viele neue Leute kennenlernen. Doch der Papierkram raubte ihnen den letzten Nerv. Dabei wurde nichts gebaut und keine neuen Leitungen verlegt. Trotzdem mussten sie eine Baubewilligung beantragen. Dutzende Dokumente und Auszüge mussten her. Speziell: Stellplätze gelten laut Raumplanungsgesetz als landwirtschaftsfremde Bauten und werden nur bewilligt, wenn der Betrieb ohne Zusatzeinkommen nicht weiterbestehen kann.

Ein weiteres Beispiel kommt von den Blick-Kollegen aus Zürich. Patric Burtscher wollte auf seinem Grundstück eine Tiefgarage bauen. Im Jahr 2018 reichte er die Baueingabe ein. Erst zwei Jahre später wurde die Bewilligung durch die Baukommission erteilt. Allerdings mit dem Vermerk, dass vor Baustart eine 30 Meter lange Kanalisationsleitung umgelegt werden muss. Die Umlegung der Leitung und die damit verbundenen Kosten waren Sache der Gemeinde. Nach langem Hin und Her über die Kosten und die neue Position der Kanalisation hatte Burtscher genug. Ende 2022 begann er zu bauen, um keine kantonalen Fördergelder für seine Solaranlage zu verlieren. Doch dann stand plötzlich die Polizei auf der Matte. Strafanzeigen gingen ein, woraufhin die Arbeiten eingestellt wurden. Die Lage der Rohre sei absurd, sagte Burtscher zu Blick. Die Kanalisation störe gar nicht. Die Kanalisation verläuft ausserhalb der Tiefgarage.

Ein weiterer Fall, bei dem einem normalen Bürger nur das Kopfschütteln übrigbleibt, kommt aus Solothurn. In Oensingen wurden zwei Bauprojekte – ein 2-Millionen-Haus und eine Strasse – als nicht zonenkonform eingestuft. Das Haus in der Reservezone darf stehenbleiben, der asphaltierte Strassenabschnitt muss jedoch für viel Geld abgebaut werden. Die Oensinger fragten sich: „Wieso eigentlich?” Auch der Lehrer Kuno Blaser (76) hat dazu eine klare Meinung. „Wie kann es sein, dass hier mit zwei unterschiedlichen Ellen gemessen wird?” Fakt ist: Als das Haus errichtet wurde, stand es in einer Wohnzone. Als die Parzelle dann umgezont wurde, wurde das Gebäude zu einer „zonenfremden Baute”. Trotzdem wurde es 2021 reibungslos zur Nutzung als Wohnhaus bewilligt und zum Kauf angeboten. Die Gemeinde hat sich bei der Bewilligung nicht an die Vorgaben gehalten. Das Bundesamt für Raumentwicklung konnte sich nicht erklären, wie die Bewilligung zustande gekommen ist.

Immense Verwaltungsaufwand durch immer mehr Beamte

Dies sind nur einige Beispiele dafür, warum die Schweiz weltweit bekannt ist für ihre komplexen, ineffizienten und immer teureren bürokratischen Strukturen. Ein Beispiel dafür ist der immense Verwaltungsaufwand, der durch das föderale System entsteht. Bund, Kantone und Gemeinden haben jeweils eigene Regelungen und Vorschriften, was zu Verwirrung und Ineffizienz führt und die Baukosten in der Schweiz ins Unerschwingliche treibt. Diese bürokratischen Hindernisse sind auch für Unternehmen ein täglicher Kampf, trotz ihrer guten Wettbewerbsfähigkeit.

 Die meisten Unternehmen klagen zu Recht über die bürokratischen Hürden in der Schweiz, insbesondere auch im Bereich der Steuer- und Arbeitsregulierungen. In der Handelszeitung lässt sich dazu Lionel Schlessinger vernehmen. Mit seiner Firma Monopol Colors mischt er weltweit mit Farben. Unternehmer in der Schweiz kennen die Bürokratie nur zu gut. Sie wissen, dass sie den Blutdruck steigen lässt. Es gibt einfach zu viele Mitarbeiter, die zu viele Gesetze machen. „Die Entwicklung in diesem Land geht in die falsche Richtung”, stellt er klar.

„Der Staat sollte endlich Rahmenbedingungen schaffen, die uns KMU-Produktivität und Innovation ermöglichen. Stattdessen erlässt er laufend neue Gesetze und Verordnungen, die genau dies verhindern.” Schlessinger ist mit dieser Meinung nicht allein. Der „Niedergang des Industriestandorts Schweiz” ist für KMU-ler ein wiederkehrendes Thema. Die Änderung der Mindestgrösse für einen Handlauf war für ihn der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Jetzt sucht er die Öffentlichkeit, um seinem Unmut Luft zu machen. Und er hofft, dass ihm viele KMU folgen, um dem „Behördenwahnsinn” endlich ein Ende zu setzen. Die Beschäftigungszahlen in der Industrie liegen heute unter dem Stand von 1991. Gleichzeitig ist die Zahl der Angestellten in den Verwaltungen um über 40 Prozent angestiegen. „Das ist eine fatale Entwicklung, die so nicht weitergehen kann.” Schlessinger bleibt am Fusse einer kleinen Treppe stehen und greift nach dem Handlauf – dem Handlauf! „2002 wurde dieser Mitarbeiterzugang vom Fabrikinspektor abgenommen. Kürzlich verlangte dessen Nachfolger, dass der Handlauf von 90 auf 110 Zentimeter erhöht werden muss. Die Begründung lautet, dass die Menschen inzwischen eben gewachsen seien. Der Aargauer atmet tief durch und sagt mit einem sarkastischen Unterton: „Ein Plus von 20 Zentimetern Körperlänge in 14 Jahren – das ist schon beachtlich.”

Notausgang

Ein paar Schritte weiter bremst Schlessinger erneut abrupt ab, diesmal vor einem Notausgang. Letztes Jahr haben wir nicht nur Besuch vom Fabrikinspektor bekommen, sondern auch von der Suva. Die Angaben der beiden Behörden zu den Sollabständen, in denen die Fluchtwege angebracht sein müssen, differieren erheblich. Es wird nicht miteinander geredet und am Schluss zahlt der Unternehmer.

In einem Beitrag der Nachrichtensendung „10vor10“ hat Schlesinger seinem Unmut über die Bedingungen am Werkplatz Schweiz, die lahme Politik und die seiner Ansicht nach zu vielen Vorschriften Luft gemacht. Am nächsten Tag ging das Telefon Sturm: Kollegen, Fremde, Unternehmer, sogar eine Bäuerin. Und alle haben mir gesagt: So ist es – und noch viel schlimmer!

Manchmal kocht Schlesinger über, wenn er über Gesetze und Vorschriften spricht. Und was ist seine Forderung? „Man muss den Beamten die Mittel entziehen.” Ich sage euch, je mehr Mitarbeiter eine Verwaltung hat, desto höher ist die Anzahl neuer Gesetze. Desto mehr Beamte braucht es wiederum, um diese zu kontrollieren. Das ist wie ein Perpetuum mobile, nur leider eines, das auf unseren Nerven herumtanzt. Besonders pikant ist, dass „neun von zehn Gesetzen und Verordnungen vom Bundesrat und den Behörden erlassen werden, also nicht einmal vom Parlament, das wir wählen.”

Um den Wirtschaftsstandort Schweiz zu stärken, muss bei Inkrafttreten eines neuen Gesetzes zwingend ein bestehendes Gesetz gestrichen werden. „Oder noch besser gleich deren zwei!”, fügt Schlesinger an. Diese Geschichten zeigen eines deutlich: Bürokratischer Wahnsinn ist kein neues Phänomen. Doch es bleibt die Frage: Wann wird aus der Bürokratie wieder gesunder Menschenverstand?

Mit nachdenklichen (aber wenigstens sommerlichen) Grüssen,

Ihr Team von inside-justiz.ch

(Foto oben aus dem Film: „Einer flog über das Kuckucksnest“ –  Jack NicholsonDanny DeVitoBrad DourifScatman CrothersVincent SchiavelliMichael BerrymanWilliam DuellTed MarklandLouisa MoritzMews Small)

(Foto unten: Kündigungsdrohung der Stadt Zürich.

 

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