Stalking kann das Leben zur Hölle machen. Im Gegensatz zu allen anderen Nachbarländern kennt die Schweiz keinen spezifischen Gesetzesartikel zu diesem Problem. Oft werden deswegen Opfer zu wenig geschützt und Täter zu selten bestraft. Das Parlament hat nun die Handlungsnotwendigkeit erkannt. Doch reicht ein neuer Gesetzesartikel?
Es begann mit einem Brief im Dezember 2016. Zu diesem Zeitpunkt erhielt Susana C. das erste Mal einen Brief an ihre Praxis. Ein Mann schrieb ihr, dass er ständig an Sie denke. Die selbständige Physiotherapeutin und Geschäftsführerin einer Tapasbar in der Berner Altstadt war ein wenig irritiert. Sie in Bern einen grossen Bekanntenkreis. Es verwunderte sie deshalb nicht, dass jemand ihre Adresse ausfindig machen konnte. Doch von da an kam jede Woche ein neuer Brief.
Erst ein Jahr später identifizierte sie den Briefeschreiber als den schüchternen Gast, der jeden Nachmittag auf einen Espresso und einen Schokokuchen vorbeikam und zudem mehrere digitale Postkarten pro Woche an ihre Mailadresse schickte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon viel Energie in die Suche nach der Person hineingesteckt und war, obwohl sie das kaum bemerkte, zum Stalking-Opfer geworden. Ihr Fall, über den „Das Magazin“ vor gut zwei Jahren berichtete, ist kein untypischer.
80 Prozent der Täter sind Männer
Stalking kommt wahrscheinlich sehr viel häufiger vor, als vermutet. In der Schweiz gibt es dazu aber kaum Forschung oder Statistiken. Lediglich die „Fachstelle Stalking-Beratung Bern“ veröffentlicht jedes Jahr Zahlen. Diese decken sich mit internationalen Studien. Jede sechste Frau und jeder zwanzigste Mann sind demnach schon einmal von Stalking betroffen. Setzt man die Kriterien enger, sind es immer noch zehn Prozent der Frauen und jeder vierzigste Mann. 80 Prozent der Täterschaft sind Männer.
Stalking wird nicht überall gleich verstanden. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren in den USA für ein komplexes Verhaltensmuster geprägt. Wörtlich übersetzt heisst Stalking „heranpirschen“ oder „anschleichen“. Ab den 2000er hielt der Begriff und die Auseinandersetzung auch in Europa Einzug. Eine allgemeinere Definition, die in einem Bericht des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung vorkommt, beschreibt Stalking als „Verhaltenskonstellation, in der eine Person einer anderen wiederholt unerwünschte Kommunikation und Annäherungen aufzwingt, sodass die Betroffenen sich in ihrer Sicherheit bedroht fühlen.“
Eine erste rechtliche Eingrenzung des Phänomens in der Schweiz findet sich in einem Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2003: „das Ausspionieren, fortwährende Aufsuchen physischer Nähe (Verfolgen), Belästigen und Bedrohen eines anderen Menschen, wobei das fragliche Verhalten mindestens zwei Mal vorkommen und beim Opfer starke Furcht hervorrufen muss“.
In den meisten Fällen ist die stalkende Person dem Opfer schon vorher persönlich bekannt. In 30-50% der FäIle geht es vom Ex-Partner aus. Es kann aber auch im beruflichen, familiären oder nachbarlichen Umfeld oder unter flüchtigen Bekannten erfolgen. Nur selten geht Stalking von Unbekannten aus.
Das Spektrum der möglichen Handlungen beim Stalking ist extrem breit. Das geht von Auflauern über Verfolgen bis hin zu Ehrverletzungen und Einschüchterungen wie Reifen zerstechen. Gerade auch der digitale Bereich erlaubt mehr Möglichkeiten des Stalkings. Das verbindende Element ist, dass die einzelnen Handlungen wiederholt werden und das Opfer erkennbar bedrängt wird. Das Vorgehen und die Motive der stalkenden Person verändern sich häufig auch im Laufe der Zeit. Es kann bis hin zu Zwang, physischer Gewalt, sexuellen Übergriffen oder Tötung kommen.
Stalking ist kein spezifischer Straftatbestand
Susana C. konfrontierte ihren Stalker bald, nachdem sie herausgefunden hatte, wer ihr Briefe schickte. An einem Abend, als sie mit Freundinnen etwas in der Altstadt trank, lief er mehrfach an ihrem Tisch vorbei. Sie konfrontierte ihn, machte ihm klar, dass er mit den Briefen aufhören soll und dass sie keinen Kontakt mit ihm wolle. Ein Vorgehen, dass in so ziemlich allen Opferschutzstellen als wichtigste Handlung erwähnt wird. Er erhielt zudem Hausverbot in ihrer Bar. Danach ignorierte sie ihn konsequent. Doch weil die Briefe und digitalen Postkarten nicht aufhörten, wendete sie sich an die Polizei. Doch von dieser hörte sie fast zwei Jahre lang nichts, bis ihre Anzeige dann von der Staatsanwaltschaft sistiert wurde. In all dieser Zeit gingen die Postkarten weiter, verstrickte sich der Stalker weiter in der Geschichte. Mit Beginn der Pandemie 2020 waren sie sein einziges Zeichen.
Teil dessen, weshalb die Polizei wohl kaum auf ihren Fall reagierte, ist die Rechtsprechung in der Schweiz. Für das Stalking gibt es nämlich bis jetzt keinen gesonderten Gesetzesartikel. In Österreich gibt es seit 2006, in Deutschland seit 2007 einen solchen Artikel, auch Frankreich und Italien, alles direkte Nachbarländer kennen ein solches Gesetz. In der Schweiz gab es 2007, 2008 und 2013 bereits Vorstösse, die jedes Mal abgelehnt wurden. Die Begründung des Bundesrats war stets eine ähnliche: dass Stalking bereits durch andere Straftatbestände wie Nötigung, Ehrverletzung oder Beschimpfung erfasst werden könne, es deshalb keinen neuen Artikel benötige. Jede Einzeltat muss deshalb separat angezeigt und ermittelt werden. Das System Stalking ist jedoch sehr viel belastender und perfider, als es die einzelnen Straftatbestände erfassen können.
Das weiche Stalking
Der Täter stalkte Susana C. fünf Jahre lang. Er lauerte ihr immer wieder auf, ging in Briefen auf Dinge aus ihrem persönlichen Umfeld ein, reagierte verärgert, wenn er bei ihr eine romantische Beziehung vermutete. Er schrieb ihr angriffige, bösartige und sexuell anzügliche Nachrichten. Er lungerte vor der Bar herum, fotografierte sie. Er nistete sich in ihrem Kopf ein und jeder Gedanke an ihn, war einer zu viel. Es ist ein klassischer Fall von sogenanntem „weichen Stalking“. Der Mann erfüllt nach bisherigem Recht keine drastischen Straftatbestände – so dass sich Polizei und Staatsanwaltschaft jahrelang nicht mit dem Fall befassten. Und trotzdem ist er eine Bedrohung, eine Belästigung, im Endeffekt ein schwerer Einschnitt in ihrem Leben. Irgendwann benötigte sie eine Therapie. Gerade für solche Fälle ist ein gesonderter Gesetzesartikel unbedingt notwendig, weil andere Tatbestände oft nicht erfüllt werden und doch kann es für die Opfer zur Hölle werden.
Was ist mit dem Zivilrecht?
Weil Susana C. den Mann verzeigt hatte, die Polizei ihn aber an seiner Adresse nicht auffand, war der Stalker zur Fahndung ausgeschrieben. An einem Nachmittag entdeckte sie ihn auf der Münsterplattform in Bern. Sie rief die Polizei an. Doch weil man dort gerade keine Zeit hatte, ging sie ihm nach, bis eine Steife eintraf und ihn mit auf die Wache nahm. Später erhielt er eine einstweilige Verfügung, sodass er ihr nicht auf 200m nahekommen und sie nicht kontaktieren durfte. Die Verfügung galt für drei Monate. Das war eine grosse Erleichterung für die Betroffene. Ihre Anwältin riet ihr danach, vor ein Zivilgericht zu ziehen, um die einstweilige Verfügung für einen längeren Zeitraum zu erwirken.
Im Zivilrecht besteht ein Instrumentarium, welches bei besonders hartnäckigen Stalkenden eine zeitlich uneingeschränkte Fortdauer von Verbotsmassnahmen erlaubt. Jedoch ist im Zivilrecht nicht der Staat der Kläger, sondern die Privatperson. Das Opfer muss sich selbst an das Gericht wenden und den erlittenen Schaden selbst belegen, ohne dass die Polizei ermittelt – gerade bei andauernder Beobachtung des Täters und wenig schriftlichen Beweisen ist dies schwierig. Zudem hätte sich Susana C. intensiv mit dem Täter befassen müssen und womöglich mehrere Tausend Franken Verfahrenskosten übernehmen müssen, wenn ihre Klage keinen Erfolg gehabt hätte. Das Risiko wäre gross gewesen.
Strafgesetzartikel auf gutem Weg
Der Nationalrat hat vor gut einer Woche einen Vorstoss der Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan angenommen. Dagegen stellten sich zuvor der Bundesrat und die SVP-Fraktion, mit der Argumentation, der Schutz sei bereits genügend durch die jetzige Rechtsprechung geregelt. Doch gerade aus Jurist:innen-Kreisen kamen gewichtige Stimmen. So lancierten beispielsweise der Forensiker Frank Urbaniok und die Zürcher Staatsanwältin Sabine Tobler eine Online-Petition. Tobler sagte gengenüber dem Tagesanzeiger: „Die einzelnen Handlungen eines Stalkers sind oft nicht so schlimm und folglich auch nicht strafbar. Aber in der Häufigkeit, Dauer und Intensität sind sie für die Opfer extrem belastend und können diese in den Wahnsinn treiben.“ Maya Bally von der Mitte-Partei äusserte sich in der Ratsdebatte zudem wie folgt: „Es musste immer zuerst etwas passieren, damit es zum Straftatbestand wurde.“
Ein Gesetz allein reicht nicht
Der neue Gesetzesartikel zur Nachstellung wurde vom Nationalrat gutgeheissen. Nun befindet sich das Geschäft im Ständerat. Die Formulierung des Gesetzestextes sei in der Tendenz hochschwellig formuliert, findet Natalie Schneiter, die seit 12 Jahren bei der „Fachstelle Stalking-Beratung“ der Stadt Bern arbeitet. Man müsse jedoch abwarten, wie das Gesetz abschliessend ausformuliert werde und wie es dann vor allem zur Anwendung kommt. Sie sagt aber auch: „Der Straftatbestand ist nur ein erster Schritt.“ Wichtig wäre für einen nachhaltigen Umgang nämlich auch eine Täterarbeit. In Deutschland und Österreich ist es gesetzlich verankert, dass stalkende Personen nach einer polizeilichen Schutzmassnahme zu Beratungsgesprächen bei spezialisierten Stellen verpflichtet werden können. Das Gewaltschutzgesetz des Kantons Zürich kennt eine annähernde Praxis für Gewalttäter bei häuslicher Gewalt. In der Schweiz gibt es bis jetzt keine spezialisierten Anlaufstellen für Stalker. Polizeiliche Schutzmassnahmen sind teilweise unzureichend, denn das zeigt der Bericht des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung: die Anordnung von polizeilichen Schutzmassnahmen ist von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich. Die Verhängung von Schutzmassnahmen hängt also auch davon ab, wo man in der Schweiz Opfer wird. Zusammenfassend sagt Natalie Schneiter: „Für eine nachhaltige Bekämpfung von Stalking braucht es verschiedene Säulen: Prävention & Aufklärung, Opferschutz, polizeiliche Massnahmen, aber eben auch die Täterarbeit.“
Nachdem die einstweilige Verfügung gegen den Stalker von Susana C. ausgelaufen war, meldete er sich nur noch einmal, danach nie wieder. Er kam ohne Strafmass davon, obwohl er sie jahrelang belästigt hatte. Sie hatte zwischenzeitlich auch herausgefunden, dass sie bereits sein zweites Opfer war. Sie sprach von Glück, dass die Briefe bei ihr irgendwann aufhörten. Doch suchte er sich nun einfach ein neues Opfer? Niemand wusste es.
Statistik 2023
Die Statistik umfasst die Erfahrungswerte der Beratungsstelle für Stalking der Stadt Bern von 2023 und stellt keine wissenschafltiche oder repräsentative Statistik dar. Die Zahlen beruhen auf den freiwillig gemeldeten Fällen beziehungsweise den Kontaktaufnahmen mit der Beratungsstelle.
Jährliche Fallmeldungen
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie ist ein Rückgang der Fallzahlen zu verzeichnen. Dieser Rückgang wird auf die Einschränkung des sozialen Lebens zurückgeführt. Im Jahr 2023 meldeten sich 98 Personen für eine Stalking-Beratung. Seit 2016 belaufen sich die Anfragen im Durchschnitt auf rund 123 pro Jahr.
Die Fachstelle erfasst bei ihren Beratungen unter anderem die Art der Beziehung, in welcher die stalkende und die betroffene Person zueinanderstehen. Das Stalking im Rahmen von Ex-Partnerschaften bildet wie in den Jahren zuvor die häufigste Beziehungskonstellation mit 47 %. Während der Covid-19-Pandemie war der Anteil von Stalking im nachbarschaftlichen Kontext gestiegen, mit 7 % im Jahr 2023 liegt dieser Anteil wieder im Bereich wie vor der Covid-19-Pandemie. Auch der Anteil an fremden Stalker*innen hat sich seit der Covid-19-Pandemie wieder leicht erhöht. Dabei handelt es sich um eine Person, welche der betroffenen Person bekannt ist, diese aber nicht persönlich beim Namen kennt (z.B. regelmässige Begegnung auf dem Arbeitsweg oder im Fitnessclub).
Die Rechtslage und die TV-Serie
Da Stalking das Leben der Opfer massiv beeinträchtigt, wird seit Jahren ein neuer Straftatbestand gefordert. Der neue Gesetzesentwurf der Rechtskommission des Nationalrats sieht in diesem vor, dass beharrliches Verfolgen und Belästigen unter Strafe gestellt wird. Täter sollen dafür zukünftig mit Geldstrafe oder Freiheitsentzug bis drei Jahren bestraft werden können. Der Bundesrat befürchtet für die Strafverfolgungsbehörden aber auch einen erheblichen Mehraufwand.
Da «Stalking» bis anhing nicht strafbar war, erfüllen einzelne
Handlungen des Stalkings andere Straftatbestände. Zu den häufigsten gehören:
Drohung (Art. 180 StGB)
Dabei ist es irrelevant, ob die Tatperson ihre Drohung wahr macht oder nicht.
Nötigung (Art. 181 StGB)
Hier ist entscheidend, ob eine konkrete Handlung des Täters vorliegt, die das Opfer zu einer Verhaltensänderung zwingt. Beispielsweise zwingt das regelmässige Auflauern am Arbeitsweg das Opfer dazu, seinen Arbeitsweg zu ändern.
Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Art. 179 StGB)
Hier gelten nicht nur Anrufe, in denen das Opfer bedroht wird. Auch wiederholte Anrufe, bei denen der Täter nichts sagt, gelten als Belästigung.
Ehrverletzung (Art. 173 StGB)
Beschimpfungen sind verbal, schriftlich, durch Bilder oder Gebärden möglich und werden dem Opfer gegenüber vor Drittpersonen geäussert. Ausschlaggebend dabei ist nicht das Empfinden des Opfers, sondern wie Drittpersonen die Äusserungen wahrnehmen können.
Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB)
Hier ist das Wort «Haus» nicht wörtlich zu nehmen. Hausfriedensbruch fängt schon an, wenn der abgegrenzte Garten (durch Zaun, Hecke, Mauer o.Ä.) betreten wird.
Körperverletzung (Art. 122 StGB)
Wichtig ist hier, dass der Gewaltakt weder eine Verletzung noch bleibende Schäden verursachen muss, um als Straftatbestand zu gelten. Zudem kann eine Körperverletzung auch bei Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit vorliegen.
Sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB)
Diese kann in Worten, Gesten oder in Taten ausgeführt werden. Ausschlaggebend ist dabei nicht die Intention des Täters, sondern wie die Handlungen vom Opfer wahrgenommen werden.
«Baby Reindeer» – die Serie über Stalking
Die Netflix-Serie Baby Reindeer basiert auf den realen Erlebnissen des Komikers Richard Gadd. Die Miniserie erzählt die Geschichte eines Mannes, der von einer Frau gestalkt wird, und thematisiert dabei auch sexuellen Missbrauch. Richard Gadd spielt in der Serie sich selbst, was der Darstellung eine besondere Authentizität verleiht. Ursprünglich war „Baby Reindeer“ eine One-Man-Show, die dann in eine Serie umgewandelt wurde.
„Baby Reindeer“ hat sich zu einem weltweiten Überraschungserfolg entwickelt. Die Serie ist nicht nur wegen ihrer tiefgehenden und erschütternden Thematik bemerkenswert, sondern auch wegen ihrer eindringlichen Darstellung, die viele Zuschauer fesselt. Trotz der schwierigen Thematik hat die Serie große Resonanz gefunden und viele Diskussionen über Stalking und sexuellen Missbrauch ausgelöst.
Das Interview von Piers Morgan mit Fiona Harvey, der realen Vorlage für die „Baby Reindeer“ Stalkerin, hatte erhebliche Auswirkungen. Fiona Harvey, die Richard Gadd als „psychotisch“ bezeichnete, nutzte das Interview, um ihre Sichtweise darzustellen und Kritik an Gadds Darstellung ihrer Person zu üben.
Piers Morgan reagierte auch auf Vorwürfe von Harvey, dass sie nur $470 für das Interview erhalten habe, obwohl sie 19 Millionen Dollar gefordert hatte. Zusätzlich beleuchtete das Interview die Perspektive des Stalkers und gab Einblicke in die Dynamiken von Stalking, was zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit diesem Thema führte. Es trug dazu bei, das Bewusstsein für die Komplexität von Stalking-Fällen zu schärfen.