„Femme fatale“ oder Opfer? Bündner Prozess entfacht Debatte

Vergangene Woche war Chur Schauplatz eines seltenen Ereignisses. Anlass ist der Vergewaltigungsprozess gegen einen ehemaligen Verwaltungsrichter des Kantons Graubünden, der wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Ausnützung einer Notlage und mehrfacher Drohung angeklagt ist. Die Vorgänge im Gerichtssaal und die mediale Berichterstattung über die als skandalös empfundene Frage eines Richters an das mutmassliche Opfer haben in der Schweiz hohe Wellen geschlagen. Die Leserkommentare sowie Proteste machen den Fall zu einem Brennpunkt einer gesellschaftlichen Debatte, inklusive Rücktrittsforderungen gegen Nebenrichter und Nichtjuristen Hermi Saluz. Das Urteil lässt auf sich warten.

Der Fall, der vor dem Regionalgericht Plessur in Chur verhandelt wurde, dreht sich um die Vorwürfe einer jungen Praktikantin gegen ihren ehemaligen Vorgesetzten, einen Verwaltungsrichter, der nach den Vorwürfen zurückgetreten ist. Die Praktikantin beschuldigt ihn, sie am 13. Dezember 2021 vergewaltigt zu haben. Noch am selben Tag unterzog sie sich einer gerichtsmedizinischen Untersuchung, die den Verdacht erhärtete. Sie reichte darauf am 7. März 2022 einer Strafanzeige ein.

Bettina Flütsch leitet den Prozess. Sie hat in Luzern studiert und gehört zurzeit zu den drei ausserordentlichen Richterinnen, die am Regionalgericht Plessur dazu beitragen, den Pendenzenberg abzubauen. Die beisitzenden Richter sind der Jurist Paul Schwendener und der Nichtjurist Hermi Saluz. Die Staatsanwältin Corina Collenberg war diejenige, die Anklage erhoben hat. Sie ist nun auch die zuständige Staatsanwältin und vertrat zusammen mit Eckert Maurus (Bild Kasten), Leitender Staatsanwalt, den Fall vor Gericht. Den beschuldigten ehemaligen Richter vertritt die Zürcher Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht Tanja Knodel (Bild Kasten) zusammen mit dem Churer Anwalt Martin Suenderhauf. Die damalige Praktikantin wird durch Silvia Däppen, Anwältin aus Chur vertreten. 

Die Verteidigung des heute 48jährigen, nun kahlrasierten Juristen, betonte, dass der sexuelle Kontakt mit der Praktikantin einvernehmlich gewesen sei und stellt die Glaubwürdigkeit des mutmasslichen Opfers in Frage, nannte sie sogar «Femme fatale». Der Angeklagte bestritt alle Vorwürfe, betonte aber, dass es sich um ein „Vier-Augen-Delikt“ gehandelt habe, also um eine Situation, in der Aussage gegen Aussage stehe und es keine direkten Zeugen gebe. Die Verteidigung des ehemaligen Richters argumentierte, dass bei dem mutmasslichen Opfer keine Verletzungen festgestellt worden seien, die auf eine Vergewaltigung hindeuteten. Ausserdem sei zwischen der angeblichen Tat und der gerichtsmedizinischen Untersuchung zu viel Zeit vergangen, und die Praktikantin habe sich auffällig verhalten, indem sie nach der Tat bei dem Angeklagten geblieben sei und Tee getrunken habe.

Ein skandalöses Thema
Die emotionale und juristische Brisanz des Falles wurde durch eine Frage des Richters Saluz noch verschärft, die für breite Empörung sorgte: Er fragte das vermeintliche Opfer, ob sie nicht in der Lage gewesen wäre, „bei ihrer nicht unkräftigen Statur“ die Beine mehr zusammenzudrücken. Wenn sie die Beine zusammenpresse, dürfte es aufgrund seiner Erfahrung schwierig sein, in sie einzudringen.“

Pierina Hassler, Autorin der Südostschweiz kommentierte den Vorfall mit dem Hinweis auf überholte Stereotype und „Vergewaltigungsmythen“, die in den Plädoyers der Verteidigung und auch im Gerichtssaal immer wieder auftauchten. Ihr Artikel wies auch auf die historisch belastete Haltung vieler Mitglieder der Gesellschaft gegenüber den Opfern hin, die häufig dazu führe, dass die Glaubwürdigkeit der Opfer in Frage gestellt werde. Hassler reflektierte zudem über die hohen Hürden, die Opfer in Vergewaltigungsprozessen zu überwinden haben und forderte eine stärkere Sensibilisierung von Richterinnen und Verteidigerinnen, um Klischees und Mythen in der Justiz zu überwinden.

Einfach hinterwäldlerisch
Auch im Artikel des Tagesanzeiger von Christian Zürcher wurde die Frage des Richters bei den Lesern heftig diskutiert. Ein Leser schrieb dazu: «Ein Richter bemerkt, dass durch zusammenpressen der Beine ein Eindringen hätte verhindert werden können. Ich dachte wir hätten das Sexualstrafgesetz geändert: Nein heisst Nein. Oder doch nicht? Nein sagen und weglaufen zu versuchen reicht also nicht?». Und: «Man müsste den Richter fragen, welche Erfahrungen er denn habe, wenn man versuche, eine kräftige Frau zu vergewaltigen, die die Beine zusammenpresst. Wie viele Male er denn als Richter sowas versucht habe, bei welchen Frauen und ob sich dann alle kräftigen Frauen erfolgreich gewehrt hätten und ab welcher Schwäche der Frauen er erfolgreich gegen ihren Willen in sie eindringen konnte und wie gross das Vertrauensintervall seiner Versuchsreihe sei… Einfach hinterwäldlerisch, solche Richter, die damit zeigen, wie sie ticken.»

Die Wut von Leser Escher zeigte sich in seinem Beitrag: «Unglaublich, unerhört! Dies muss Konsequenzen für den Richter haben. Es kann nicht sein, dass 2024 Opfer mit solchen Aussagen seitens Richter konfrontiert werden! Es gibt so viele Gründe die wissenschaftlich, moralisch und professionell dagegensprechen. So zeigen Studien, dass manche Personen bei Bedrohung in eine Erstarrung kommen und sich nicht wehren können. Genau deshalb wurde u.a. das Sexualstrafrecht abgeändert, dass Vergewaltigungen nicht nur als solche gelten, wenn sich das Opfer gewehrt hat. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass viele Personen in so einer Situation sich gar nicht mehr wehren können. Dies ist nicht ein bewusster Entscheid, unser Stammhirn reagiert (Reaktionen kämpfen flüchten oder erstarren) – dies sind uralte Überlebensstrategien. Richtig, so ein Richter hat zurückzutreten. Solch eine Aussage muss Konsequenzen haben!»

F. Wyler ergänzt: Die Aussagen sind MASSIV übergriffig und absolut unangebracht! Es ist ein Victim-Blaming auf höchster Instanz und untermauert die Rape-Culture. Die Aussagen zeigen klassischerweise, wie die Schuld bei sexualisierter Gewalt immer noch bei den Geschädigten, meistens Frauen gesucht wird. Es zeigt wie heute noch bei höchstgebildeten Menschen das Wissen, der Respekt, wie auch der Wille fehlt, sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Entschuldigung gefordert
Ein weiterer Kommentar fordert von Richter Saluz sogar eine Entschuldigung: «Der Richter ist aus meiner Sicht abzumahnen, wie auch müsste er sich öffentlich im Gerichtssaal entschuldigen, wie eine offizielle Entschuldigung an die Frau zukommen lassen. Er müsste freigestellt werden bis er eine Weiterbildung besucht hat, bezüglich sexualisierter Gewalt. Anfangen als Basisliteratur vor der Weiterbildung, könnte er mit dem Buch: Hast du Nein gesagt? Von Frau Widla und Frau Suter. Zuvor ist er nicht kompetent genug, um Urteile fällen zu dürfen, wo es auch nur im weitesten um diese Thematik geht.

Und Kommentator Bilgerii findet: «Dort sitzt also ein Richter der „aus eigener Erfahrung weiss“, dass wenn eine kräftige Frau ordentlich die Beine zusammenpresst, ein Eindringen nicht möglich ist. Und solch ein Richter soll also einen anderen ehemaligen Richter und Kollegen verurteilen – ein Witz, wenn es nicht so tragisch wäre. Und Leser Chrigu Aeschlimann fordert: «Was bitte erlaubt sich der Richter mit der Aussage? So ein Richter gehört abgesetzt aber sofort. Eine solche Aussage ist primitiv, obszön und erniedrigend für alle Frauen welche vergewaltigt wurden. Was für ein Schwachsinn, ich krieg mich nicht mehr ein.»

Ein weiterer Leser stellt fest: «Wie viele Male er denn als Richter sowas versucht habe, bei welchen Frauen und ob sich dann alle kräftigen Frauen erfolgreich gewehrt hätten und ab welcher Schwäche der Frauen er erfolgreich gegen ihren Willen in sie eindringen konnte und wie gross das Vertrauensintervall seiner Versuchsreihe sei. Einfach hinterwäldlerisch, solche Richter, die damit zeigen, wie sie ticken.

Fragestellung hinterlässt einen schalen Geschmack
Andere Leser hingegen haben mit der Frage des Richters kein Problem und schrieben: «Im Strafverfahren geht es darum, die Wahrheit zu ermitteln. Sentimentalitäten, woke Sprachregeln und Ideologien haben da nicht allzu viel verloren und müssen halt manchmal hintenanstehen. Mit gesundem Menschenverstand und ohne bösen Willen kann man ohne Weiteres erkennen, was der Richter mit seiner Aussage meinte, auch wenn er sich tatsächlich ziemlich unglücklich ausdrückte.»

Duri Bonin, bekannter Rechtsanwalt aus Zürich ging auf den Prozess in seinem Podcast «Auf dem Weg als Anwält:in» ein .Hier erläutert Bonin: «Komisch mutet an, dass es eine Bemerkung hat sein sollen. Richter machen normalerweise in einer Befragung nie persönliche Bemerkungen. Speziell ist auch dass man bei der Frage einen Bezug auf eigenen Erfahrungen macht. Man könnte darauf schliessen, dass der fragende Richter die Komplexität der Fragestellung verkennt.» Laut Anwalt Duri Bonin hinterlässt diese Fragestellung einen schalen Beigeschmack.

Unkenntnis über die Auswirkungen von Traumata
Eine Leserin der Südostschweiz erklärte in ihrem Leserbrief: «Im Fall des wegen Vergewaltigung angeklagten Bündner Richters zweifelt dessen Anwalt die Aussage des Opfers an, weil «keine Schmerzen, keine Blessuren, keine Verletzungen» festgestellt worden seien. Zudem bezeichnet er ihr Gefühl, sich «nicht mehr im eigenen Körper» gefühlt zu haben als «raumzeitlichen Kontrollverlust». Dazu ein wichtiger Hinweis: Traumatische Erlebnisse wie sexualisierte Gewalt führen häufig zu einer Schockreaktion, die als Dissoziation bezeichnet wird. Dabei verliert die betroffene Person das Gefühl für den eigenen Körper und erlebt die Situation wie von aussen – eine automatische Schutzfunktion des Nervensystems. Diese Reaktion ist weder gewollt noch steuerbar und kann dazu führen, dass sich die Betroffenen kaum oder gar nicht zur Wehr setzen.

Dieser gut dokumentierte Überlebensmechanismus bei extremem Stress und Angst kommt in der Aussage der Praktikantin deutlich zum Ausdruck. Ihre Reaktion bestätigt den Tatbestand der Vergewaltigung eher, als dass sie ihn widerlegt. Das Fehlen sichtbarer Verletzungen oder das Erleben von Dissoziation schmälert keineswegs die Glaubwürdigkeit der Betroffenen – im Gegenteil: Es zeigt die Realität vieler Opfer sexualisierter Gewalt. Die Argumentation des Anwalts offenbart eine bedenkliche Unkenntnis über die Auswirkungen von Traumata.»

Demo gegen Richter am Freitag in Chur
Die für viele Menschen unerhörte Frage des Richters verstärkte scheinbar für das Feministische Kollektiv Graubünden den Eindruck eines frauenfeindlichen Vorurteils, das Opfer sexualisierter Gewalt für die Taten ihrer Peiniger mitverantwortlich macht. Als Reaktion hat das Feministische Kollektiv Graubünden deshalb für heute Freitag um 17.00 Uhr zu einer Protestkundgebung vor dem Grossratsgebäude in Chur aufgerufen.

Diese Demonstration soll laut den Organisatoren ein klares Signal senden gegen sexualisierte Gewalt und ein Justizsystem, das laut den Organisator*innen zu oft den Tätern zugutekommt. „Wir wollen ein Zeichen setzen gegen sexualisierte Gewalt und gegen ein System, das nur die Täter schützt“, sagt Ioanna Bachmann, Sprecherin des Kollektivs. Die Kundgebung verstehe sich als Appell für mehr Respekt gegenüber Opfern von Sexualverbrechen und als Forderung nach Reformen im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt.

Rücktrittforderung von prominentem Churer Anwalt
Neben dem Feministischen Kollektiv Graubünden kommt nun auch Rücktrittforderungen von einem prominenten SP-Politiker und Juristen aus Chur: Dr. Jean-Pierre Menge von der SP schreibt die Südostschweiz in einem Artikel. Seit dem 1. Januar 2014 ist er Mitglied des Gemeinderats von Chur und seit 2021 sitzt er in der Geschäftsprüfungskommission. Er fordert in der Südostschweiz von heute Freitag den Rücktritt des Richters Hermi Saluz: «Nach der in den vergangenen Jahren intensiv geführten Diskussion über sexuellen Missbrauch (u.a. ein Nein ist ein Nein), muss eine solche Frage als grober Schlag in das Gesicht des Opfers bezeichnet werden. Der zuständige Richter hat mit dieser Frage eindeutig eine rote Linie überschritten und auch dem Ansehen des Gerichtes erheblichen Schaden zugeführt. Gemäss Art. 7 des Gerichtsorganisationsgesetzes kann die Aufsichtsbehörde einen Richter vor Ablauf der Amtsdauer des Amtes entheben, wenn er aus anderen schwerwiegenden Gründen als Mitglied eines Gerichts nicht mehr zumutbar er-scheint.

Menge fordert weiter: «Auf jeden Fall muss der Richter klar als befangen betrachtet werden. Ich gebe meiner Hoffnung Ausdruck, dass dieser genug Rückgrat hat, aufgrund seines massiven Fehltritts umgehend freiwillig seinen Rücktritt zu erklären, um das Gericht vor weiterem Schaden zu bewahren.

Wir haben den ehemaligen SVP-, ehemaligen BDP- und heutigen Mitte-Politiker und Richter Hermi Saluz um eine Stellungnahme zu den Rücktrittsforderungen gebeten. Saluz konnte dazu jedoch keine Aussage treffen. «Wir befinden uns in der Beratungsphase und ich konzentriere mich auf das Wesentliche. Nebenschauplätzen kann ich momentan keinen Raum geben. Dafür bitte ich um Verständnis. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich mich damit beschäftigen.»

Damit ist auch klar, dass das eigentlich für Freitag angekündigte Urteil noch auf sich warten lässt.

Wie sich Richter zu verhalten haben

  Erlaubtes Verhalten

  • Der Richter soll unparteiisch und unvoreingenommen sein. Er muss die Fakten vorurteilsfrei würdigen und das Recht unvoreingenommen anwenden.
  • Er soll die Befragung sorgfältig, gewissenhaft und effizient durchführen.
  • Der Richter darf Fragen stellen, um den Sachverhalt zu klären und die Wahrheit zu ermitteln.
  • Er soll den Parteien und Zeugen mit Respekt und Höflichkeit begegnen.
  • Der Richter darf seine Einschätzung der Sach- und Rechtslage darlegen, um z.B. einen Vergleich zu fördern.

Zu unterlassendes Verhalten

  • Der Richter darf nicht einseitig mit nur einer Partei verhandeln oder sprechen, auch nicht über einen möglichen Vergleich.
  • Er soll keine despektierlichen, kränkenden oder beleidigenden Äußerungen machen.
  • Der Richter darf keinen Druck auf die Parteien ausüben oder seine persönliche Meinung zum Ausgang des Verfahrens äußern.
  • Er soll keine Voreingenommenheit oder Befangenheit zeigen oder den Anschein davon erwecken.
  • Der Richter darf sich nicht zu laufenden Verfahren öffentlich äußern.

Wichtige Vorschriften

  • Das Recht der Parteien auf ein faires Verfahren und einen unparteiischen Richter (Art. 30 Bundesverfassung, Art. 6 EMRK).
  • Die Pflicht zur Wahrung des Amtsgeheimnisses (Art. 320 StGB)69.
  • Die Ausstandsregeln bei Befangenheit (Art. 47 ZPO).
  • Das Recht der Angeklagten, Belastungszeugen zu befragen (Art. 6 EMRK).
  • Die Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Amtsführung.

Richter sollen also eine faire, unparteiische und effiziente Befragung durchführen, dabei aber stets die Würde und Rechte aller Beteiligten respektieren und jeden Anschein von Befangenheit vermeiden. Ob das auch in Chur schon angekommen ist?

Tanja Knodel

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