Wir berichteten bereits über den Fall von Thomas Widmer (Name geändert), dessen Pfändung durch das Konkursamt Bern-Mittelland in keiner Weise seinen realen Verhältnissen entsprach. Das Resultat war, dass er sich ohne private Hilfe nicht einmal mal mehr ein «Gipfeli» kaufen konnte. Doch die Geschichte hat noch weitere Aspekte eines Dramas. Das Steueramt und das Konkursamt waren nicht an einer nachhaltigen Sanierung interessiert, weshalb Thomas Widmer erneut in den Konkurs getrieben wurde. Die Beamten agieren formalistisch und versuchen, die Schulden schnellstmöglich einzutreiben, was jedoch nicht zu einer Schuldentilgung, dafür aber zu einer Privatinsolvenz, einem immensen Justizaufwand und zu hohen Kosten für die Steuerzahlenden führte.
Thomas Widmer hat jahrelang die Steuern nicht bezahlt. Seinen Lohn von gut 7’000 Fr. gab er nicht für ein übermässiges Leben aus, sondern verwendete ihn, um die Lebenshaltungskosten von sich und seiner krebskranken Konkubinatspartnerin zu decken. Diese kam aus dem Ausland, konnte in der Schweiz wegen ihrer Krankheit nicht arbeiten, spricht nur mässig die deutsche Sprache und erhielt deshalb weder IV noch Sozialhilfe. Widmer hatte Schwierigkeiten, seine eigenen Finanzen zu verwalten, und die Steuern blieben deshalb immer wiede unbezahlt. So beliefen sich die Schulden beim Steueramt Bern in den Jahren 2017 bis 2020 auf gut 140’000 Franken. Eine riesige Summe, von der auch Widmer wusste, dass es nicht einfach sein würde, diesen Schuldenberg wieder abzubauen.
Die verhinderte Schuldensanierung
Das Steueramt Bern-Mittelland schlug ihm deshalb eine Sanierung vor. Er wurde aufgefordert, über einen Zeitraum von 36 Monaten, also drei Jahren, monatliche Zahlungen von 4’185 Fr. an das Steueramt zu überweisen. Diese Summer war für Thomas Widmer jedoch offenkundig nicht realistisch, da seine eigenen Fix- und Lebenshaltungskosten bei 5’500 Fr. monatlich pro Monat lagen. Zudem hätte er dadurch schlichtweg keine Rückstellungen für die aktuellen Steuern machen können, sodass er weiterhin im Schuldenstrudel gefangen gewesen wäre. Im Wissen um die Situation wurde M.W., Treuhänder und Bekannter von Widmer eingeschaltet. Dieser übernahm die Kommunikation mit dem Steueramt und schlug vor, eine gemässigtere Sanierung über eine längeren Zeitraum vornehmen. So hätte Thomas Widmer jeden Monat 1’500 Fr. zur Tilgung seiner Schulden aufbringen können. M.W hätte die Differenz bezahlt und Thomas Widmer die wesentliche Summe von ca. 100’000 Franken als zinsfreien Privatkredit zur Verfügung gestellt. Diese hätte Widmer dann an den Treuhänder über eine sehr viel längere Zeit und mit weniger Druck zurückzahlen können. Doch der Treuhänder stellte eine Bedingung. Thomas Widmer hatte bereits im Jahr 2016 Steuerschulden beim Kanton Bern angehäuft, die ihn in eine schwierige finanzielle Lage brachten. Damals wurde wie bei jedem ordentlichen Privatkonkurs ein Konkursverlustschein ausgestellt.
Nachhaltige Sanierung torpediert
Der Treuhänder M.W. regte an, bei einer nachhaltigen Sanierung von Thomas Widmer nicht nur die Steuerschulden 2017 bis 2020, sondern gleich auch die Steuerschulden von 2012 bis 2016 zu berücksichtigen. Er unterbreitete deshalb dem Steueramt den Vorschlag, die Periode von 2017 bis 2020 vollumfänglich zurückzubezahlen, sofern man den vergangenen Schuldschein mit einem Nachlass von 70 Prozent verkauft. Zu diesem Zeitpunkt war die Aussicht auf eine Tilgung der Schulden aus der Periode 2012 bis 2016 für das Steueramt Bern wohl nicht mehr gegeben. Die Bedingung von Treuhänder M.W. erschien durchaus nachvollziehbar, da er eine Sicherheit benötigte und dem Steueramt misstraute. Hätte Thomas Widmer nämlich die 140’000 Franken mit dem Privatkredit des Treuhänders bezahlt, wäre wohl bald das Steueramt Bern bei Widmer wieder vorstellig geworden, um nun auch die alten Steuerschulden einzutreiben.
Somit wäre Widmer erneut in der Schuldenfalle geraten und der Treuhänder hätte seine 100’000 Franken nicht mehr erhalten. Der Treuhänder legte dem Steueramt die Situation dar. Er wies darauf hin, dass er als Bekannter das grösste finanzielle Risiko trage. Das Steueramt verzichte auf einen Teil des Schuldscheins, Thomas Widmer werde nach etlichen Jahren starker Einschränkung weniger rechtlichen Druck haben und so die Schulden beim Treuhänder abbezahlen können.
Trotz Lösungsvorschlag verzichtet das Steueramt auf das Geld
Doch die Antworten des Steueramtes sind leider nicht lösungsorientiert und deshalb unerfreulich. Es wurde mitgeteilt, dass die Höhe des monatlichen Betrags festgesetzt sei und man an einer Sanierung über einen längeren Zeitraum nicht interessiert sei. Zum Vorschlag des Treuhänders auf einen Nachlass beim Konkursverlustschein wurde geantwortet, dass eine Prüfung einer Nachlassdividende von 70 % der Konkursforderung frühestens vorgenommen werden könne, sobald die Sanierung der laufenden Steuern durchgeführt sei.
Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür, dass man erst über eine Nachlassdividende verhandeln kann, wenn aktuelle Forderungen beglichen sind. Das Risiko einer erneuten Schuldenspirale mit zusätzlichem Verlust von 100 000 Franken durch den Treuhänder erscheint zu hoch, weshalb sie mitteilen, dass sie auf den vorgeschlagenen Plan durch das Steueramt nicht eintreten können. Auf Anfrage von Inside-Justiz möchte sich das Steueramt Bern-Mittelland zum laufenden Fall nicht weiter äussern. Grundsätzlich, so Dominik Rothenbühler, Co-Leiter externe Kommunikation bei der Steuerverwaltung des Kantons Bern, sei eine solche Schuldensituation mit Dritten nicht vorgegeben.
Auch das Steueramt bestätigt, dass es Spielraum gibt. Bei einem Sanierungsplan wird geprüft, ob es möglich ist, „trotz Beschränkung der Lebenshaltungskosten auf das betreibungsrechtliche Existenzminimum die Steuerschulden abzubauen“. Zur Frage, weshalb es nicht zu einer ganzheitlichen Schuldensanierung gekommen ist, gibt Dominik Rothenbühler wie folgt Auskunft: „Bei der Überprüfung eines Sanierungsvorschlags können ohne Weiteres Auflagen über die noch zu bezahlenden Beträge auferlegt werden. Eine solche Auflage kann beispielsweise sein, dass die aktuellen, laufenden Steuerforderungen beglichen sein müssen. So wird ein weiteres rechtliches Inkasso vermieden.“ Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass es zwangsläufig zu Auflagen kommen muss.
Der erneute Privatkonkurs
Weil Thomas Widmer seine Schulden unmöglich bezahlen kann, hat das Steueramt darauf ein Inkassoverfahren eingeleitet und übergab den Fall an das Konkurs- und Betreibungsamt Bern Mittelland weitergeleitet. Wie bereits im vorangehenden Artikel geschildert, zeigt sich auch dieses Amt wenig nachsichtig mit der Situation von Thomas Widmer. Der Beamte pfändet ihm den Lohn auf das Existenzminimum, in seinem Fall auf 2800 Franken, mit dem er alle Ausgaben von sich und seiner Frau tätigen soll. Eine Unmöglichkeit.
Der Treuhänder unterstützt ihn eine Weile privat, damit die notwendigen Ausgaben (u. a. wegen der Krebserkrankung seiner Partnerin) getätigt werden können. Beide sind sich jedoch bewusst, dass sich neue Steuerschulden anbahnen. Thomas Widmer, der sich bereits in der Schuldenspirale befindet, sieht sich nun leider erneut gezwungen, den Schritt des erneuten Privatkonkurses einzuleiten, den er doch von Anfang an mit allem Entgegenkommen unbedingt verhindern wollte. Doch in dieser Situation ist der Entscheid für Thomas Widmer der einzig folgerichtige, denn bei einem Privatkonkurs wird zwar das Vermögen verteilt, das in seinem Fall nicht vorhanden ist, aber es hebt die gnadenlose Lohnpfändung bei Thomas Widmer auf.
Die Situation ist so gelagert, dass das Steueramt weiterhin seine Forderung aufrechterhalten kann. Allerdings erhält der Schuldner eine gewisse Schonfrist, bis er wieder über entsprechende finanzielle Mittel (sogenanntes «neues Vermögen») verfügt. Da es jedoch kaum Aussicht auf Vermögen gibt, ist davon auszugehen, dass das Steueramt Bern den geschuldeten Betrag nie mehr zurückerhält und Thomas Widmer nie mehr in seinem Leben die Möglichkeit haben wird, über seinen bescheidenen Verhältnissen leben zu können. Zusammengefasst: Eine Situation, die für beide Seiten unbefriedigend ist.
Die Strafanzeige – Schlappe für die Steuerverwaltung
Die Geschichte ist damit aber noch nicht erledigt. Das Konkursamt in Bern ist über die unerfreuliche Entwicklung, dass Widmer den Privatkonkurs erneut einreichen musste,(die das Amt ja durch ihr stures Handeln herausgefordert hat) sichtlich genervt. Anstatt die existenzbedrohte Situation und den Privatkonkurs als logischen Schritt der Paragrafenreiterei zu erkennen, beschloss das Amt dann tatsächlich, Strafanzeige gegen Thomas Widmer einzureichen. Der Vorwurf: Betrügerischen Konkurs und Misswirtschaft. Sie unterstellt Widmer mit dem erneuten Privatkonkurs den massiven Steuerforderungen nicht nachkommen zu wollen: „Das Konkursamt geht davon aus, dass er über seinen Verhältnissen lebt und Vermögenswerte verschleudert“, heisst es in der Schlussverfügung der Staatsanwaltschaft. In den Erläuterungen zeichnet das Konkursamt das Bild eines Mannes, der die Steuern nicht bezahlt, danach in Privatinsolvenz geht, sich dabei von seinem Treuhänder helfen lässt und nebenbei Geld versteckt.
Diese haltlosen Unterstellungen macht das Betreibungsamt Bern-Mittelland, obwohl es zuvor schon bei 18 Banken in der Schweiz herausgefunden hat, dass Thomas Widmer bei diesen über kein Bankkonto verfügt. Im Rahmen der Strafuntersuchung sperrt die Migros Bank sein Konto und Thomas Widmer sich mit einer Reihe von Massnahmen seitens der Behörden konfrontiert, darunter wiederholte Aufforderungen zur Aussage, obschon er diese verweigert.
Im September 2023 stellt die zuständige Staatsanwältin dann das Verfahren ein, weil sie kein systematisches Vorgehen von Thomas Widmer sieht. Die Staatsanwaltschaft kommt dabei zum Schluss: „Weiter erfüllte Thomas Widmer durch den Insolvenzantrag zum Zweck der Unterbrechung der Lohnpfändung keinen Straftatbestand, zumal gerade darin einer der Vorteile eines Insolvenzantrages gesehen wird“, so die Staatsanwältin. Eine Ohrfeige für die Steuerverwaltung für ihren Racheakt.
Anklagen durch die Steuerverwaltung
Roger Schober, Vorsteher des Betreibungs- und Konkursamt Bern-Mittelland, möchte sich aus Gründen des Amtsgeheimnisses nur allgemein äussern. „Die Behörden sind zur Mitteilung an die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wenn ihnen in ihrer amtlichen Tätigkeit konkrete Verdachtsgründe für ein von Amtes wegen zu verfolgendes Verbrechen bekannt werden. Ob sich diese Verdachtsgründe vertiefen, ob ein Strafverfahren durchgeführt oder eingestellt wird, obliegt der Staatsanwaltschaft. Den Entscheid in solchen Fällen nehmen wir jeweils professionell zur Kenntnis“, so der Amtsvorsteher.
Ohne Happy End
Im Ergebnis sitzt Thomas Widmer heute auf einem Schuldenberg, der ihn auch in den kommenden 20 Jahren belasten wird. Das Steueramt Bern Mittelland betrachtet die Forderungen weiterhin als nicht getilgt, da es an dem eigenen unzumutbaren Sanierungsplan festhielt. Das Betreibungsamt pfändete ihn bis auf das Äusserste, sodass Widmer nur noch der Weg in den Privatkonkurs blieb. Wohl aus Rache hat das Konkursamt des Kantons Bern dann auch noch Strafanzeige gegen den bereits arg gebeutelten Bürger (mit krebskranker Partnerin) eingereicht, dazu 18 Banken gegen Widmer aufgehetzt und damit die Migros Bank dazu getrieben, dass sie ihrem Kunden sogar noch das Konto gesperrt haben. Die hohen Kosten dieses Prozesses, insbesondere der Strafanzeige, trägt die Allgemeinheit, da die Ämter an ihren Paragrafen festhielten und nicht an einer nachhaltigen und pragmatischen Lösung interessiert waren. Vielmehr ging es darum, die Schulden möglichst schnell und möglichst schmerzhaft einzutreiben. Es ist bedauerlich, dass dieses Vorgehen, das möglicherweise nicht das intelligenteste war, nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hat. Im Gegenteil. Leider hat das formalistische und unmenschliche Vorgehen der Behörden dazu geführt, dass keine Schulden getilgt, keine Lösungen ermöglicht oder Thomas Widmer und seine Partnerin nicht aus ihrer finanziellen Notlage befreit wurden.
Den ersten Teil dieses Steuerdramas finden Sie hier.

Roger Schober und das Betreibungsamt Bern-Mittelland
Dass in Bern die Betreibungsämter nicht gerade zimperlich mit ihren „Kunden“ umgehen, zeigt der Fall von Thomas Widmer. Doch in den Medien tauchen immer wieder Geschichten auf, die zeigen, dass die Berner Behörden wenig Mitleid zeigen. Diese Geschichten zeigen, dass die Beamten dieser Ämter wohl auch schon für Suizide verantwortlich sein könnten. So jedenfalls wird dies in einem Artikel des Thuner Tagblatt im Dezember 2022 beschrieben.
„Die Nachricht, dass sich mehrere Schuldner das Leben genommen haben, hat Beat Herrmann sehr betroffen gemacht. „Das geht nicht spurlos an einem vorbei”, sagt der 72-Jährige in der Küche seines Hauses in Rüschegg-Heubach. „Einer hat sich im Heustock aufgehängt. Seine Augen sehe ich heute noch vor mir!” Dabei habe er doch nur vollzogen, was „die in Bern hinten” von ihm verlangt hätten.
36 Jahre lang trieb Beat Herrmann als Weibel für das Betreibungsamt Schulden ein. 2015 wurde er pensioniert. Nun wird der Rentner wegen nicht bezahlter Fernseh- und Radiogebühren selber betrieben. Allerdings gibt es zwischen dem ehemaligen Arbeitnehmer und dem ehemaligen Arbeitgeber, dem Betreibungsamt Bern Mittelland, schon länger unterschiedliche Auffassungen. „Wie die mit den Schuldnern umgehen, ist einfach nicht in Ordnung“, sagt er und meint damit auch sich selbst.
Hauptaufgabe der Betreibungsweibel – im Kanton Bern heissen sie inzwischen Aussendienstmitarbeitende – ist die persönliche Zustellung des Zahlungsbefehls. Dazu kommt es, wenn Gläubiger wegen einer nicht bezahlten Rechnung beim kantonalen Betreibungsamt die Eintreibung der Schulden verlangen. Das geschieht ziemlich oft: Über 279’000 Zahlungsbefehle wurden im Kanton Bern 2021 ausgestellt. Am häufigsten rücken die Betreibungsweibel wegen nicht bezahlter Steuern und Krankenkassenprämien aus. Werden die Rechnungen nicht bezahlt, kann der Gläubiger die Pfändung beantragen. Meist wird dann der Lohn gepfändet, seltener das Auto oder andere Vermögenswerte.
In den letzten Jahren seien die Alten und Schwerkranken immer mehr an die Kasse gekommen, sagt Herrmann. «Ich habe Leute betrieben, die ihr ganzes Leben geschuftet haben und dann entlassen worden sind.» Sie seien dann mit 50 oder 60 zu Hause herumgehockt und hätten ihr Erspartes aufgebraucht. «Da konnte man zusehen, wie schnell die aus der Gesellschaft fallen.»
Dass immer mehr Alte betrieben werden, kann das Betreibungsamt nicht bestätigen. «Ob jemand betrieben wird, entscheidet die Gläubigerseite, das Betreibungsamt hat darauf keinen Einfluss», sagt Roger Schober, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Betreibungs- und Konkursämter des Kantons Bern. Seine Mitarbeitenden erfüllten ihren gesetzlichen Auftrag «menschlich und nach bestem Wissen und Gewissen».
Beschimpft und bedroht
Beschimpft und ernsthaft bedroht worden sei er in all den Jahren nur einmal, sagt Herrmann. Beim Betreibungsamt heisst es hingegen, Drohungen gegen das Amt oder Mitarbeitende nähmen seit einigen Jahren zu. Auch an den Schaltern der Betreibungsämter kommt es laut Roger Schober vermehrt zu Beschimpfungen der Mitarbeitenden bis hin zu Handgreiflichkeiten.
Ende der 1990er-Jahre werden die bernischen Betreibungsämter reorganisiert. Mit dem neuen Chef kommt Herrmann nicht klar. Auch bei seiner Arbeit kommen ihm jetzt zunehmend Zweifel. «Einmal musste ich eine 90-jährige Frau wegen 40 Franken Bundessteuer betreiben.» Da sei ihm ein Licht aufgegangen, dass in unserer Gesellschaft grundlegend etwas schieflaufe.
Die Unterstellung, das Betreibungsamt habe Menschen in den Suizid getrieben, wiege schwer und mache ihn betroffen, sagt Roger Schober. Er weise sie in aller Form zurück. «Mir ist aus meiner über zehnjährigen Praxis im Betreibungs- und Konkursamt Bern-Mittelland kein solcher Fall bekannt.» Bei Anzeichen von Suizidalität informiere man die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden.
Verschuldet und depressiv
Dass Schulden die Stimmung trüben, scheint naheliegend. Joanna Herzig hat für ihre Masterarbeit in Public Health Verschuldete im Kanton Zürich nach ihrem Gesundheitszustand befragt. Laut Herzig, die inzwischen bei der Schuldenprävention der Stadt Zürich arbeitet, zeigten 24 Prozent der Überschuldeten Symptome einer Depression schweren Grades, bei der Allgemeinbevölkerung seien es hingegen lediglich 2,3 Prozent. Zudem denken überschuldete Menschen immer wieder an Suizid: «In unserer Studie gab knapp ein Drittel der Betroffenen an, in den letzten zwei Wochen an einzelnen Tagen über Suizid nachzudenken», sagt Herzig.
Roger Schober ist in den Medien kein Unbekannter. So schrieb der Blick schon 2014 über Schober, der einer verdienten Mitarbeiterin nach sechs Jahren Arbeit kein Arbeitszeugnis sondern nur eine Arbeitsbestätigung ausstellte. Schober berief sich darauf, dass er damals nicht verantwortlich war, und dass «ich Frau De Piano nicht kenne». Ausserdem seien die ehemaligen Vorgesetzten von Frau De Piano auch nicht mehr im Amt. Diese Chefwechsel seien «gegenstandslos», sagte Thomas Geiser, Professor für Privat- und Handelsrecht an der Uni St. Gallen, «denn Chefs kommen und gehen. Änderungen von Zeugnissen können innerhalb von bis zu zehn Jahren eingefordert werden.» Doch Amtsvorsteher Roger Schober weigerte sich. Für ihn sei der Wunsch nach Änderung des Zeugnisses zwei Jahre nach Austellung nicht nachvollziehbar. Eine Neuformulierung sei mehr als fragwürdig. Er beruft sich ausserdem auf eine Vereinbarung mit De Piano nach ihrem Austritt. Brigitte De Piano ist verzweifelt. Ihr bleibt jetzt nur noch der Gang zum Gericht. Doch dazu fehlen der Sozialhilfebezügerin die finanziellen Mittel.
Harte Haltung
Auch im Bieler Tagblatt (21.3.22) wird die „harte Haltung des Betreibungsamtes Bern-Mittelland als Kulturfrage“ angeprangert. Noémie Zurn, CO-Leiterin der Schuldenberatung Bern, wird zitiert: «Mangelnde Kommunikation, falsche Berechnungen des Existenzminimums, verlorene Unterlagen und bürokratische Schikanen erschweren unseren Klientinnen und Klienten die Zusammenarbeit mit dem Betreibungsamt». Und weiter: „Erst kürzlich hat das Amt einer Familie aus nicht nachvollziehbaren Gründen die Miete nicht zurückerstattet. «Die Eltern und ihre drei Kinder leben seither unter dem Existenzminimum». Zurn ist überzeugt: «Viele Existenzminima werden nicht korrekt ermittelt. Es herrscht die Einstellung vor, dass sich die Betroffenen dann schon wehren werden.» Während die Zusammenarbeit mit den anderen Betreibungsämtern im Kanton funktioniert, ist das Verhältnis zum Betreibungsamt Bern-Mittelland zerrüttet. «Das letzte Gespräch auf Führungsebene war so respektlos, dass es eigentlich nur noch bergab gehen kann», sagt Zurn. «Interventionen bei der zuständigen Regierungsrätin Evi Allemann haben bisher leider auch nicht gefruchtet.» Auch hier muss man sich rechtfertigen: Roger Schober, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Betreibungs- und Konkursämter, nimmt Stellung. In einer ausführlichen schriftlichen Stellungnahme weist er jegliche Verantwortung für den Wohnungsverlust von D. von sich und spielt den Ball zurück: Bei der Berechnung des Existenzminimums sei man auf die von den Schuldnerinnen und Schuldnern vorgelegten Beweismittel angewiesen. Das sei im vorliegenden Fall nicht oder zu spät geschehen. Und: «Der Schuldner selbst hat die Nichtvorlage der Belege später schriftlich bestätigt». Dass nicht alles perfekt läuft, muss aber auch Schober einräumen: „So sei die Rückerstattungspraxis bereits 2020 «kritisch durchleuchtet und vereinfacht» worden. Zudem würden die Schuldnerinnen und Schuldner nun kantonsweit «noch offensiver» auf das Einreichen von Belegen aufmerksam gemacht.
Dies könnte möglicherweise auch als Teil der „professionellen Kenntnissnahme” von Roger Schober betrachtet werden, auch heute noch.
Roger Huber