Der Ständerat hat gestern als Zweitrat nach dem Nationalrat einen Austritt der Schweiz aus der EMRK abgelehnt. Und das deutlich, mit 37:6 Stimmen. Angenommen wurde hingegen ein Vorstoss von Andrea Caroni (FDP AR). Er verlangt, dass der Bundesrat zusammen mit weiteren Mitgliedsstaaten ein verbindliches Zusatzprotokoll anstrebt, dass die Richter des EGMR zurückbindet.
Der Unmut der Schweizer Politik und Justiz nach dem sog. «Klimaurteil» des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im April 2024 war gross. Der Spruch aus Strassburg wurde von Juristen weitherum als übergriffig empfunden und ausserhalb dessen, was die Menschenrechtskonvention hergebe. Diese Kritik am EGMR ist freilich nicht neu: Immer wieder werden die Richter dafür kritisiert, dass sie die Menschenrechte nicht nur dynamisch weiterentwickeln, sondern die EMRK gegen ihre explizit formulierte Aufgabe auch immer mehr ausweiten.
Der Bundesrat hat deshalb auf Geheiss des Schweizer Parlaments bereits beim Ministerrat des Europarates deponiert, dass die Eidgenossenschaft aufgrund des Urteils keine Änderungen ihrer Politik ins Auge fassen werde. Grund dafür war allerdings vor allem, dass der Gerichtshof in seinem umstrittenen Urteil die jüngsten politischen Schritte der Schweiz gegen den Klimawandel gar nicht berücksichtigt hatte – dazu zählte insbesondere das neue CO2-Gesetz, das am 15. März 2024 vom Parlament verabschiedet, vom EGMR in seinem Urteil aber nicht mehr berücksichtigt worden war.
SVP nicht zufrieden
In der Debatte in den Räten begrüssten Linke und Grüne den Strassburger Entscheid, da er ihren politischen Zielen entgegenkam. Die Juristen, die sich vertieft mit dem Urteil auseinandergesetzt hatten, waren sich aber – häufig auch über die Parteigrenzen hinaus – einig, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit diesem Urteil einen weiteren Schritt gegangen war, der ausserhalb seiner Kompetenzen lag und deshalb nicht einfach hingenommen werden solle. Nur: Was wäre zu tun?
Die SVP griff den radikalsten Vorschlag auf und verlangte in einer Motion zunächst im Ständerat, die Schweiz solle die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK aufkündigen. Der Walliser SVP-Nationalrat Michael Graber begründete den Vorstoss: «Unsere Demokratie beruht auf Mehrheiten des eigenen Volkes, nicht auf den Launen von fremden Richtern. Dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen soll, ist deshalb aber auch kein Skandal, im Gegenteil: Der Austritt ist nichts anderes als konsequent.» Mit diesem Schritt könnten Urteile des Bundesgerichts nicht mehr nach Strassburg weitergezogen werden.
Bundesrat Beat Jans (SP) sprach sich namens des Bundesrates gegen die Kündigung aus, weil sie zu weitreichende Folgen hätte:
«Auch auf internationaler Ebene hätte eine Kündigung Nachteile für die Glaubwürdigkeit und den Ruf der Schweiz. Sie würde zum Ausscheiden der Schweiz aus dem Europarat und zu einer aussenpolitischen Schwächung der Schweiz führen. Ich erinnere Sie auch daran, dass das Parlament in den letzten Jahren den Stellenwert der EMRK und des EGMR für die Schweiz mehrmals bestätigt hat.» Die vollständige Debatte kann im Protokoll des Nationalrates nachgelesen werden.
Der Nationalrat stimmte schliesslich mit 121 zu 65 Stimmen gegen die Motion.
Ständerat will Reaktion des Bundesrates
Nur einen Tag nach dem Nationalrat befasste sich auch der Ständerat mit der Frage. Hier waren gleich mehrere Vorstösse hängig. Hier hatte der Thurgauer SVP-Ständerat Jakob Stark die Motion eingebracht, die EMRK zu kündigen, wobei er in der Debatte seinen Vorstoss mehr taktisch begründete und dafür eintrat, eine grundlegende Reform der Menschenrechte respektive derer Auslegung anzugehen: «Genau darum geht es bei einer Reform von EMRK und EGMR: Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis der Grundfreiheiten und der Menschenrechte. Dieses ist heute nicht mehr vorhanden. Der Bundesrat warnt vor den Nachteilen einer Kündigung der EMRK und den Auswirkungen auf die politische Glaubwürdigkeit und den Ruf der Schweiz. Ich denke, dies ist doch kurzfristig und opportunistisch gedacht. Das muss in Kauf genommen werden, um eine Reform der EMRK und des EGMR zu erwirken.» Gleichwohl wurde der Vorstoss für einen Austritt aus der EMRK auch in der kleinen Kammer deutlich mit 37:6 Stimmen abgelehnt.
FDP-Ständerat Andrea Caroni nahm den Faden von Stark gleichwohl auf, schlug aber vor, die Reformation nicht auf dem Weg einer Kündigung zu erreichen. Sondern, indem der Bundesrat unter den Mitgliedsstaaten ein Zusatzprotokoll anrege. In einem solchen sollen beispielsweise Verbandsbeschwerden explizit ausgeschlossen werden. «Zweitens könnte man klarmachen, dass die Ermessensspielräume der Staaten noch stärker zu achten sind und der EGMR nur subsidiär tätig ist. Drittens könnte man sagen, dass nur konkrete Verletzungen zu adressieren sind und nicht abstrakte globale Entwicklungen mit diffusen Kausalketten. Viertens könnte man dem EGMR in einem solchen Protokoll klarmachen, dass seine einzige Aufgabe darin besteht, die EMRK anzuwenden – und nicht beliebige andere Staatsverträge. Diese Option scheint mir der richtige Weg zu sein.» Die vollständige Debatte kann im Protokoll des Ständerates nachgelesen werden.
Der Ständerat stimmte der Motion Caroni schliesslich mit 32:12 Stimmen zu – auch der Bundesrat hatte sie zur Annahme empfohlen.
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Das Parlament hat diese Woche die Chance verpasst, den Strassburger Richtern die gelbe Karte zu zeigen.
Und Nein. Wir meinen damit nicht, dass es sinnvoll gewesen wäre, den Vorstössen der SVP Folge zu leisten und die Europäische Menschenrechtskonvention kurzerhand aufzukündigen. Auch wenn die Haudegen der SVP gerne vor den fremden Richtern warnen: Die Vorstellung, dass niemand mehr dem Bundesgericht auf die Finger schauen würde, ist noch viel befremdender. Die Qualität der Lausanner Richter und ihrer Urteile ist schlicht nicht ausreichend, um ihnen das letzte Wort zu überlassen.
Es ist auch nicht so, dass die Strassburger Urteile allesamt übergriffig wären. Im Gegenteil, sie sind als Korrektiv nötig, wenn sich innerhalb des Landes wieder einmal alle staatlichen Instanzen gegenseitig decken. Wie das viel zu häufig der Fall ist. Es sei nur erinnert an die letzten Urteile in der Familienpolitik, wo die Impulse gegen die herrschende Diskriminierung von Kindsvätern häufig genug von Strassburg ausgehen mussten, weil sich im Land niemand bewegte und stossendste Grundrechtsverletzungen mit einem Achselzucken erledigt wurden. Dass Asbestopfer, deren Krankheiten sich oft erst 20 Jahre später manifestieren, nicht einfach beschieden werden kann, sie hätten Pech gehabt, die Verjährungsfrist sei halt schon abgelaufen, ist ebenfalls dem EGMR zu verdanken. Und richtig.
Gleichwohl ist unbestritten, dass der EGMR immer mehr politische Urteil fällt, was nicht hinzunehmen ist. Ob ein neues Zusatzprotokoll, wie jetzt vom Ständerat beim Bundesrat «in Auftrag gegeben», eine Verbesserung bringen wird? Das Ansinnen von FDP-Ständerat Caroni ist nachvollziehbar, bleibt aber wohl ein Akt für die Galerie. Es sei nur sei daran erinnert, dass dieser Versuch bereits früher unternommen wurde. Es gibt bereits heute 16 Zusatzprotokolle. Artikel 1 des 15. Zusatzprotokolls regelt beispielsweise, dass der EGMR subsidiär tätig sein soll und die Vertragsstaaten über einen Ermessensspielraum verfügten. Beeindrucken liessen sich die Strassburger Richter davon allerdings wenig – wie das jüngste Urteil in der Sache des bosnischen Drogendealers gegen die Schweiz aufzeigt.
Der Strassburger Arroganz ist deshalb nur beizukommen, indem die Mitgliedsländer genauer hinschauen, wen sie als Richterinnen und Richter für den EGMR vorschlagen. Fehlbesetzungen wie zuletzt mit dem SP-alt-Bundesrichter Andreas Zünd müssen verhindert werden. Dafür müssen Parlament und Bundesrat ihre Arbeit ernst nehmen und die Kandidaten vor einer Ernennung genauer prüfen, statt einfach einen Vorschlag durchzuwinken. Über die Aussendiplomatie müssen zudem die anderen Mitgliedstaaten sensibiliert werden, dassselbe zu tun.
Zudem muss den heutigen Richtern in Strassburg deutlich(er) gemacht werden, dass es so nicht geht. Wenn die SVP-Motion zur Aufkündigung allerdings im Nationalrat im Verhältnis 2:1 (und im Ständerat sogar mit 6:1) abgelehnt wird, wird das niemanden in Strassburg aufschrecken, sondern im Gegenteil noch bestärken. Eine Ablehnung der Motion mit einem Stimmenunterschied von vielleicht noch 10 Stimmen im Nationalrat hingegen wäre sehr wohl ein solches Signal gewesen. Aber offenbar ist das Parlament nicht in der Lage, über die Parteigärtchen hinaus für das Wohl des Landes zusammenzuarbeiten.
Bildquelle: Parlamentsdienste 3003 Bern, Rob Lewis