Wie das Bundesgericht einen Genfer Staatsanwalt in die Schranken weist

Das Bundesgericht hat im Fall (7B_768/2024) eines jüdischen Schweizers, der wegen Wucher, Geldwäscherei und Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft genommen worden war, die Argumentation des zuständigen Genfer Staatsanwalts Frédéric Scheidegger (Bild) scharf kritisiert. Der Staatsanwalt hatte die Untersuchungshaft unter anderem mit der Möglichkeit begründet, dass der Beschuldigte aufgrund seiner jüdischen Religion nach Israel fliehen könnte. Diese vom Bundesgericht als diskriminierend beurteilte Argumentation, die das, führte zur Entlassung des Staatsanwalts aus dem Verfahren und zu einer grundsätzlichen Klärung bezüglich der rechtlichen Bedeutung der Religion im Strafverfahren, schreibt SRF.

Der Angeklagte wurde am 8. April 2024 in Genf verhaftet, nachdem ihm mehrere Straftaten zur Last gelegt worden waren, darunter Wucher, Geldwäscherei und Steuerhinterziehung. Die Staatsanwaltschaft beantragte Untersuchungshaft, weil Fluchtgefahr bestehe. Diese Einschätzung stützte sich unter anderem auf die jüdische Religionszugehörigkeit des Beschuldigten, da Juden nach israelischem Recht das sogenannte Rückkehrrecht zusteht. Dieses Recht ermöglicht es allen Juden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, nach Israel einzuwandern.

Am 10. April 2024 ordnete das zuständige Gericht Untersuchungshaft an. Am 15. April 2024 stellte der Beschuldigte einen Befangenheitsantrag gegen Staatsanwalt Scheidegger. Er argumentierte, der Staatsanwalt behandle ihn aufgrund seiner Religion anders und sei deshalb voreingenommen. Die Genfer Vorinstanz wies dieses Gesuch ab, worauf der Beschuldigte am 11. Juli 2024 Beschwerde beim Bundesgericht einreichte.

Der Anwalt des Angeklagten, Nicola Meier, beantragte die Ablehnung des Staatsanwalts. Er hielt das Argument für diskriminierend und schockierend, da es den Anschein eines Antisemitismus der Staatsanwaltschaft festschreibe. Frédéric Scheidegger hatte dieser Lesart entschieden widersprochen und beispielsweise erklärt, dass die doppelte Staatsangehörigkeit eines Angeklagten bei der Beurteilung der Fluchtgefahr berücksichtigt werden kann – in diesem Fall spricht jedoch niemand von Fremdenfeindlichkeit. Am 10. Juni lehnte die Beschwerdekammer den Antrag ab und schloss einen latenten Antisemitismus aus. Meier reichte Klage beim Bundesgericht ein.

Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht gab dem Beschwerdeführer Recht und erklärte die Argumentation der Staatsanwaltschaft für unzulässig. Es stellte fest, dass die angewendeten Kriterien den Eindruck erweckten, der Beschuldigte sei aufgrund seiner Religion als fluchtgefährdet eingestuft worden. Dies stelle eine unzulässige Diskriminierung dar und erwecke den Anschein der Voreingenommenheit.

Der Gerichtshof hob das Urteil der Vorinstanz auf, stellte die Befangenheit des Staatsanwalts fest und ordnete die Bestellung eines neuen Staatsanwalts an. Ausserdem ordnete es an, dass über die Kosten des Verfahrens neu zu entscheiden sei. Der Beschuldigte wurde noch vor dem Entscheid des Bundesgerichts aus der Untersuchungshaft entlassen. Das Gericht sprach dem Beschwerdeführer eine Entschädigung von CHF 2’500 zu Lasten des Kantons Genf zu.

Kritik an der Argumentation des Staatsanwalts

Die Argumentation des Genfer Staatsanwalts stützte sich auf das sogenannte Rückkehrrecht nach Israel, das 1950 von der Knesset eingeführt wurde, um Juden aus aller Welt die Einwanderung nach Israel zu ermöglichen. Der Staatsanwalt verglich dieses Recht mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft und argumentierte, dass es dem Angeklagten die Flucht nach Israel erleichtern würde.

Diese Argumentation wurde von Historikern und Experten scharf kritisiert. Die Historikerin Hannah Einhaus, die sich intensiv mit Antisemitismus beschäftigt hat, bezeichnete die Argumentation als einen Rückfall in die antisemitischen Vorurteile der 1950er Jahre. Damals sei den jüdischen Schweizern oft eine doppelte Loyalität unterstellt worden, ein Vorurteil, das heute nicht mehr akzeptabel sei. Sie betonte, dass es keine vergleichbaren Vorwürfe gegenüber Katholiken gebe, die als nicht loyal gegenüber dem Vatikan bezeichnet würden.

Auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) begrüsste den Entscheid des Bundesgerichts. Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG, betonte, dass die mögliche Auswanderung nach Israel kein legitimer Grund sei, um strengere Haftbedingungen oder eine andere Behandlung zu rechtfertigen.

Das Bundesgericht stellte klar, dass die Religionszugehörigkeit allein keine Grundlage für die Annahme von Fluchtgefahr sein könne. Es betonte, dass für die Annahme einer Fluchtgefahr konkrete Bezüge zu Israel, wie familiäre Beziehungen, Immobilienbesitz oder ein Aufenthaltsgesuch, vorliegen müssten. Die pauschale Annahme, dass alle Juden aufgrund ihres Rückkehrrechts potenziell fluchtgefährdet seien, sei diskriminierend und unzulässig.

Dieses Urteil hat wegweisende Bedeutung, da es die Grenzen für die Verwendung von religiösen oder ethnischen Merkmalen in der rechtlichen Beurteilung von Straftätern aufzeigt. Es schützt nicht nur die Rechte des Einzelnen, sondern unterstreicht auch die Bedeutung von Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung im Strafverfahren. Das Bundesgerichtsurteil setzt ein Zeichen gegen Diskriminierung und Vorurteile im Schweizer Justizsystem. Es stellt sicher, dass religiöse oder ethnische Zugehörigkeit nicht als Grundlage für restriktive Massnahmen wie Untersuchungshaft herangezogen werden können, es sei denn, es gibt konkrete Beweise für einen Zusammenhang mit den vorgeworfenen Taten.

Was ist Untersuchungshaft?

Wird eine Straftat begangen, so stehen den Strafverfolgungsbehörden verschiedene Zwangsmassnahmen zur Verfügung, um die Tat aufzuklären. Die Untersuchungshaft ist dabei das einschneidendste Mittel, das den Strafverfolgungsbehörden zusteht. Dabei kann die tatverdächtige Person in Haft genommen werden, um zu verhindern, dass sie illegal auf das Verfahren Einfluss nimmt (z.B. durch Drohungen, Gewalt etc.), flüchtet oder weitere Taten begeht. In der Schweiz wird die Untersuchungshaft in Art. 221-240 StPO geregelt.

Wichtig ist: Auch während der Untersuchungshaft gilt die Unschuldsvermutung. Es kommt auch nicht selten vor, dass Personen, die in Untersuchungshaft waren, später freigesprochen werden. Auch Unschuldige können also in Untersuchungshaft kommen. 

Voraussetzungen der Untersuchungshaft

Damit Untersuchungshaft angeordnet werden kann, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. In jedem Fall vorausgesetzt wird dabei ein sogenannter „dringender Tatverdacht„. Dies alleine reicht jedoch nicht. Neben dem dringenden Tatverdacht muss auch einer der folgenden speziellen Haftgründe erfüllt sein: FluchtgefahrKollusionsgefahr oder Wiederholungsgefahr.  

Ersatzmassnahmen

Liegt ein dringender Tatverdacht vor und besteht entweder Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr, so sind die Grundvoraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft gegeben. Allerdings darf diese nur angeordnet werden, wenn keine milderen Mittel (sogenannte Ersatzmassnahmen) existieren. Kann beispielsweise die Fluchtgefahr durch eine elektronische Fussfessel oder eine Kaution unter die Haftschwelle gesenkt werden, so ist Untersuchungshaft unverhältnismässig und darf nicht angeordnet werden.

Verhältnismässigkeit

Beachtet werden muss immer auch die Verhältnismässigkeit. Unzulässig (weil unverhältnismässig) ist die Anordnung von Untersuchungshaft z.B. bei blossen Bagatelldelikten (z.B. Parkbussen).

Sicherheitshaft

Als Sicherheitshaft gilt die Haft während der Zeit zwischen dem Eingang der Anklageschrift beim erstinstanzlichen Gericht und der Rechtskraft des Urteils, dem Antritt einer freiheitsentziehenden Sanktion oder der Entlassung (Art. 220 StPO). Die Sicherheitshaft löst die Untersuchungshaft ab, wenn nach Anklageerhebung die Haftgründe weiter bestehen oder neu hinzukommen.

Quelle: https://www.u-haft.ch/

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