Bündner Justizkommission als Dunkelkammer

Viele in Graubünden dürften den Rücktritt des Verwaltungsrichters, der eine Gerichtspraktikantin mutmasslich vergewaltigt hat, mit Erleichterung zur Kenntnis genommen haben. Für die strafrechtliche Aufarbeitung ist der Schritt zwar irrelevant, das politische System dürfte aber aufatmen. – Denn: Geglänzt hat es in der Angelegenheit nicht.

Die zentrale Rolle im jüngsten Bündner Justizskandal spielt die Kommission für Justiz und Sicherheit, eine ständige Kommission des Grossen Rats. Am 30. Juni 2022 erhielt sie erstmals offiziell Kenntnis von dem Fall: An diesem Tag gelangte der Erste Staatsanwalt des Kantons, Claudio Riedi, mit einem Ermächtigungsgesuch an die Kommission. Wie andernorts auch, muss für eine Strafuntersuchung gegen einen Richter, wenn ihm eine Straftat im Amt vorgeworfen wird, erst die Immunität aufgehoben werden. Das tat die Kommission mit Entscheid vom 16. August 2022, also nach sechs Wochen und dem Ende der Sommerferien.

Bemerkenswert: Der Beschuldigte selbst hatte einer solchen Ermächtigung nicht nur über seinen Anwalt, sondern auch noch mit einem persönlichen Brief an die Kommission ausdrücklich zugestimmt. Die KJS unternahm bei dieser Ausgangslage deshalb keine weiteren eigenen Abklärungen und winkte die Ermächtigung durch.

Dunkelkammer Justiz-Kommission

Unterschrieben ist der Ermächtigungsentscheid vom damaligen Präsidenten der Kommission, Mitte-Grossrat Gian Derungs. Der Umstand ist von Belang, weil der beschuldigte Richter ebenfalls der Mitte-Partei angehört und in früheren Jahren gar einmal deren Churer Ortspartei präsidierte. Einen Ausstandgrund aufgrund der Nähe sah Derungs offenbar nicht, obwohl es um ein eigenes Parteimitglied ging. Auf eine entsprechende Anfrage von INSIDE JUSTIZ antwortet Derungs: «Im von Ihnen erwähnten Fall wurde die aktuelle Kommissionspräsidentin Julia Müller als Auskunftsperson für sämtliche Medienanfragen bestimmt. Daher bitte ich Sie, allfällige Fragen direkt an die jetzige Kommissionspräsidentin zu stellen.»

Neben Derungs sassen in der elfköpfigen KJS noch weitere vier Mitglieder der Mitte-Partei.  Ob sie in der Sache in Ausstand getreten waren oder nicht, lässt sich nicht eruieren. Die von INSIDE-JUSTIZ angefragten Kommissionsmitglieder haben entweder nicht auf eine Anfrage reagiert oder ebenfalls auf die neue Präsidentin Müller verwiesen, welche keine Auskunft auf diese Frage gibt und dafür das Kommissionsgeheimnis vorschiebt.

Gleiche Partei als Ausschlussgrund?

Ob alleine die gleiche Parteizugehörigkeit ein Ausschlussgrund darstellen soll, ist umstritten. Die Gerichtskommission der eidgenössischen Räte hält in einem internen Reglement zum Thema Amtsenthebung explizit fest, dass die gleiche Parteizugehörigkeit alleine keinen Ausstandsgrund bildet. Andrea Caroni, der ehemalige Präsident der Gerichtskommission, hält diese Regelung für «sachgerecht», wie er INSIDE JUSTIZ schreibt.

Allerdings ist die Distanz zwischen den Mitgliedern der eidgenössischen Gerichte und des Parlaments per se grösser als in einem Kanton wie Graubünden. Das Risiko, dass ein Mitglied der eidgenössischen Gerichtskommission beispielsweise im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt mehrfach und immer wieder mit demselben Richter zu tun hat, ist äussert klein.

Interessenskollisionen der Rechtsanwälte

Anders in Graubünden. Mitte-Grossrat und Kommissionsmitglied Reto Crameri beispielsweise prozessiert als Rechtsanwalt regelmässig vor Verwaltungsgericht. Die Entscheiddatenbank der obersten Bündner Gerichte listet 18 Fälle auf, in denen der beschuldigte Verwaltungsrichter Teil des Spruchkörpers war, also in den Fällen von Parteifreund Crameri miturteilte.

Mit anderen Worten: Crameri befand sich in einem Interessenkonflikt und dürfte wenig Interesse daran gehabt haben, die Richter zu erzürnen, auf deren Goodwill er als Rechtsanwalt in seinen Verfahren vor Verwaltungsgericht hoffen musste. Dasselbe gilt auch für Ilario Bondolfi, der genau so wie Crameri nicht nur ein Parteikollege des beschuldigten Richters ist, sondern ebenso vor Verwaltungsgericht prozessiert. Die Entscheiddatenbank listet 11 Fälle auf, in denen der mutmassliche Vergewaltiger in Fällen Bondolfis als Richter mitwirkte.

Auf die Frage, ob sie aufgrund der doppelten Interessenskollision in den Ausstand getreten waren, mochten weder Bondolfi noch Crameri antworten.

Situation hat sich noch akzentuiert

Mit der neuen Legislatur, die Ende August begann, haben sich die Interessenskonflikte innerhalb der KJS noch verschärft. In der neuen Justiz-Kommission sitzen nicht mehr nur zwei Rechtsanwälte, sondern gleich deren vier. Neben Reto Crameri ist das beispielsweise SVP-Grossrat und Rechtsanwalt Stefan Metzger aus Zuoz. Gemäss eigenen Angaben ist Metzger auf Baurecht spezialisiert, ein juristisches Fachgebiet, bei dem Streitsachen regelmässig am Verwaltungsgericht landen. Volle 31 Mal war der beschuldigte Richter in Fällen von Metzger als Richter involviert. Auch er reagiert nicht auf eine entsprechende Frage von INSIDE-JUSTIZ zu allfälligen Interessenkollisionen zwischen seinem Job als Anwalt und seiner Funktion in der Gerichtsaufsicht.

GLP-Grossrätin Laura Oesch ist im Hauptamt Rechtsanwältin in Chur mit Fachgebiet Steuerrecht – auch in diesem Thema landen Streitfälle regelmässig vor Verwaltungsgericht. Oesch hatte es vor Gericht allerdings erst einmal mit dem beschuldigten Richter zu tun. Auch Oesch schweigt sich über allfällige Interessenkollisionen aus und hat auf eine Anfrage von INSIDE JUSTIZ nicht reagiert.

Unbelastet erscheint von den Rechtsanwälten der Kommission lediglich SP-Grossrätin Corina Rusch Nigg – sie hatte laut Entscheid-Datenbank noch nie vor Verwaltungsgericht prozessiert.

Trölendes Vorgehen

In der Medienmitteilung der Justizkommission vom Dienstag heisst es, die KJS habe unmittelbar nach der Ermächtigung, also Ende August, ein eigenes Aufsichtsverfahren gegen den angezeigten Richter in die Wege geleitet. Besondere Eile hatte sie dabei nicht: Dreieinhalb Monate nach Eröffnung war sie gemäss eigener Mitteilung noch nicht weiter, als dass Sie dem beschuldigten Richter die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt hatte. Welche konkreten Schritte die Kommission in der Sache unternommen hat, bleibt ihr Geheimnis. Vor allem aber: Vom Moment der ersten Kenntnisnahme bis zu einem allfälligen Suspendierungsentscheid, den der Grosse Rat frühestens im Februar hätte fällen können, wären dann sage und schreibe acht Monate ins Land gegangen.

Haben die verschiedenen Interessenkollisionen die Kommission ausgebremst?  

Der naheliegende Verdacht: Die KJS wollte die Angelegenheit lieber aussitzen und wurde erst aktiv, als bekannt wurde, dass Medien wie INSIDE JUSTIZ in der Sache recherchieren. Eine andere These, die im Kanton herumgeboten wird: Die Kommission wollte ihr grosses Projekt der Justizreform 3 nicht gefährden. Mit der Justizreform werden Kantons- und Verwaltungsgericht in einem Obergericht zusammengelegt, das neue Gericht soll zudem in ein Staatsgebäude an der Grabenstrasse in Chur einziehen, das vorgängig aber noch für den stolzen Betrag von CHF 30 Mio. saniert wird.

Die Zusammenlegung von Kantons- und Verwaltungsgericht bedeutet aber auch, dass bei einer allfälligen Berufung in dem Vergewaltigungsfall die Kantonsrichter über einen Richterkollegen, der am selben Gericht tätig ist, hätten befinden müssen. – Dank dem Rücktritt des Beschuldigten wird es jetzt soweit zumindest nicht kommen. Eine Berichterstattung darüber vor der Volksabstimmung hätte da aber möglicherweise für einige Unruhe gesorgt.

Eigenartiges Kommunikationsverständnis

Präsidentin der Kommission für Justiz und Sicherheit ist seit anfangs September die 25-jährige Grossrätin und SP-Vizepräsidentin Julia Müller (Hobby – gemäss eigenem Internet-Auftritt: «Ausschlafen»). Sie sass zusammen mit zwei weiteren Mitgliedern schon während der letzten Legislatur in der Justizkommission. Müller ist Rechtsstudentin und arbeitet auf ihren Abschluss hin.

Wie die Studentin sich als oberste Aufsichtsperson über die Bündner Justiz gegenüber gestandenen Richtern mit teilweise über 30 Jahren Berufserfahrung Respekt verschaffen will, ist schleierhaft. Sie selbst beantwortet Fragen dazu, ob sie die richtige Besetzung für diese Position sei, nicht.

Kleines Detail am Rande: Sollte sie später einmal die Anwaltsprüfung im Kanton machen wollen, würde sie dort auf so illustre Prüfungsexperten stossen wie den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts, Thomas Audétat, den Kantonsgerichtspräsidenten Remo Cavegn oder den Ersten Bündner Staatsanwalt, Claudio Riedi.

Gegen Gewalt an Frauen – zumindest während dem Wahlkampf

Auf der Internetseite der Frauenzentrale Graubünden zeigt sich Müller engagiert, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht: «Frauen müssen mehr Schutz bekommen», erzählt sie dort vollmundig zum Thema häusliche Gewalt. Wenn es hingegen um die mutmassliche Vergewaltigung am Verwaltungsgericht geht, wird sie kleinlaut. Interviews oder Statements für die Radio- und TV-Stationen verweigerte Müller diese Woche vollständig, was von verschiedenen Medienschaffenden als Hinweis auf ihre Überforderung gesehen wird. In der Medienmitteilung vom Dienstag, die mehr Fragen offenliess, als sie beantwortete, fügte Müller an, weitere Informationen dürften «von Gesetzes wegen» nicht erteilt werden.

INSIDE JUSTIZ fragte bei der Rechtsstudentin nach, auf welches Gesetz sich diese Aussage beziehe. Müller per E-Mail: «Es gelten allgemeine Rechtsgrundsätze, wie die Unschuldsvermutung, der Persönlichkeitsschutz beider Parteien, und das Amtsgeheimnis, welchem wir als Kommission unterstehen.»

Kein Amtsgeheimnis, das Information verbietet

Das sei Unfug, sagen von INSIDE JUSTIZ befragte Juristen. Die Geschäftsordnung des Grossen Rates sieht genau das Gegenteil vor. In Art. 16 Abs. 1 GGO GR heisst es zwar tatsächlich, dass Kommissionssitzungen nicht öffentlich seien. Schon Absatz 2 gibt den Kommissionen aber den expliziten Auftrag, über ihre Tätigkeit zu berichten: «Die Kommissionen orientieren durch eine von ihnen bezeichnete Sprecherin oder durch einen von ihnen bezeichneten Sprecher die Öffentlichkeit über den Verlauf der Kommissionsverhandlungen, wenn diese von erheblichem allgemeinen Interesse sind.» Eine solche Information könne selbstverständlich sehr wohl so gestaltet werden, dass die Unschuldsvermutung und Persönlichkeitsrechte eingehalten würden, so die einhellige Expertenmeinung.

Martin Stoll ist Geschäftsführer des Vereins «Öffentlichkeitsgesetz», der sich für mehr Transparenz in der Verwaltung und Politik einsetzt. Dass parlamentarische Kommissionen häufig als Dunkelkammern agieren und die Politik sich dagegen wehrt, dass die Kommissionsarbeit für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nachvollziehbar wird, ist für ihn nichts Neues. Der Verein fordert, dass die Arbeit in den Kommissionen transparenter wird. «Es kann nicht sein, dass man solche Fälle unter Ausschluss der Öffentlichkeit geregelt werden», sagt er, auf den vorliegenden Fall angesprochen. «Ein öffentliches Interesse ist hier klar gegeben, es muss, unter Wahrung des Persönlichkeitsschutzes, grösstmögliche Transparenz hergestellt werden zu diesen Vorgängen.» Er ruft die Politik auf, offener zu werden, denn nur so könne bei der Bevölkerung der Eindruck von Filz und Klüngelei korrigiert werden.

Selbstkritik? Fehlanzeige

Davon ist die Bündner Politik weit entfernt. Bislang hat sich niemand dafür, Kritik an Müllers spezieller Informationsführung als Kommissionspräsident zu üben. SP-Parteipräsident Andri Perl, der bis September ebenfalls noch in der Justizkommission sass, lässt sich in der SÜDOSTSCHWEIZ vom Donnerstag mit dem Satz zitieren, man dürfe «diskrete Kommunikation nicht mit Passivität verwechseln.» Aber auch die politische Konkurrenz stellt sich schützend vor Müller, wie beispielsweise die Mitte-Co-Präsidentin und frühere Standespräsidentin Aita Zanetti: «Es ist nicht eine Einzelperson, welche in der Funktion als Präsident oder Präsidentin Entscheide fällen kann. Das Alter oder Geschlecht einer Person betrachten wir weiter nicht als Kriterium für die Kompetenz zur Ausübung dieser Aufgabe.»

Müller schützt also die Kommissionsmitglieder der Mitte vor kritischen Fragen, die Mitte-Partei schützt Müller vor kritischen Fragen. So wäscht eine Hand die andere.

 

 

5 thoughts on “Bündner Justizkommission als Dunkelkammer

    1. Ja, genau. Und mit Medien ist vorallem die Südostschweiz gemeint. Diese ist gegenüber der Politik viel zu wenig kritisch und hinterfragend. Skandale decken andere auf. Die Südostschweiz bringt nur unkritische Informationen (Einweihungen, Unfälle, Berichte über Abstimmungen usw.).

  1. Herr Lorenzo Winter als Journalist möchten sie natürlich jede Information erhalten um einen Bericht zu erstellen und die Öffentlichkeit zu informieren. Die Mitglieder der Kommission mit ihren Beruflichen Bezug zu hinterfragen geht vollkommen in Ordnung. Aber in einem Punkt gehen sie zu weit und das ist ihr Angriff auf die Kommissionspräsidentin Julia Müller. Ihre Aufgabe ist die Kommission einzuberufen und durch die Sitzung zu führen. Frau Müller ist dem Kommissionsgeheimniss unterstellt und darf nur Informationen an die Öffentlichkeit geben die von der Kommission abgesegnet sind. Somit ist ihr Handeln korrekt.

    1. Die Kommissionen, in denen ich schon sass, wurden je nach Präsidium unterschiedlich geführt. Es stimmt, manche Präsidenten sind wirklich nicht mehr als Sekretäre, die Sitzungen einberufen und Protokolle versenden. Ganz anders, wenn eine Person eine Kommission präsidiert, die kompetent ist und einen Führungsanspruch hat. Eine solche Person würde niemals zulassen, dass die ganze Kommission in Misskredit gerät, sondern eine transparente und offensivere Kommunikation durchsetzen. Dass es sehr wohl anders geht, hat z.b. ein Caroni als Präsident der eidgenössischen Gerichtskommission gezeigt.
      Fairerweise müsste man aber wohl tatsächlich weniger Müller kritisieren, die wenig für ihr Versagen kann: woher sollte sie die nötigen Kompetenzen auch haben? Es fehlt ihr dafür an Berufs- und Lebenserfahrung. Kritisieren müsste man diejenigen, die sie in eine solche Position hieven und damit verheizen: Allen voran ihre eigene Partei, die SP, aber auch die anderen Parteien im Parlament, die sie am Ende ja als Kommissionspräsidentin gewählt haben.

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