Marcel Riesen-Kupper leitete während siebzehn Jahren die Zürcher Jugendanwaltschaften. Im Interview erinnert er sich an bewegende Fälle und erklärt, warum das Ausland neidisch auf unser Jugendstrafrecht blickt.
(Red inside-justiz.ch) Marcel Riesen-Kupper war der langjährige Leitende Oberjugendanwalt des Kantons Zürich. Seit 2006 leitete er die Jugendanwaltschaften des Kantons und setzte sich in dieser Rolle intensiv mit der Jugendkriminalität auseinander . Während seiner Amtszeit war Riesen-Kupper eine zentrale Figur in der Schweiz im Umgang mit Jugendgewalt und nahm regelmässig zu aktuellen Entwicklungen Stellung. Seine Expertise und Einschätzungen wurden oft in den Medien herangezogen, beispielsweise zu den steigenden Zahlen der Jugendgewalt in der Schweiz. Riesen-Kupper hat massgeblich zur Literatur über das Schweizer Jugendstrafrecht beigetragen und an Kommentaren zum Strafgesetzbuch mitgearbeitet. Ein bedeutender Fall während seiner Karriere war der Fall Brian Keller, auch bekannt als „Carlos“. Dieser Fall führte zu einer intensiven öffentlichen Debatte über den Umgang der Behörden mit dem Fall und die Rolle der Medien. Marcel Riesen-Kupper hat die Altersgrenze erreicht und wurde 2024 von Roland Zurkirchen abgelöst, der die Leitung der Zürcher Jugendanwaltschaften übernommen hat.
Das nachfolgende Interview führte Nicola Gattlen in der Zeitschrift prison-info.
Herr Riesen-Kupper, Sie waren 35 Jahre lang in der Jugendstrafrechtspflege tätig. Was fasziniert Sie an dieser Arbeit?
Marcel Riesen-Kupper: Die Arbeit ist ungemein vielfältig. Im Unterschied zur Staatsanwaltschaft, die «nur» Straftaten abklärt, ist die Jugendanwaltschaft auch für den Vollzug der Schutzmassnahmen und Strafen zuständig. Sie beschäftigt sich also sowohl mit juristischen als auch mit sozialen und pädagogischen Fragen und arbeitet interdisziplinär mit anderen Fachleuten zusammen. Auch die Zielsetzung fasziniert mich: Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass der Jugendliche wieder auf den rechten Weg kommt – eine schöne, sinnstiftende Aufgabe. Motivierend ist natürlich, dass Jugendliche gegenüber Veränderungen noch offen sind. Ihr Verhalten und ihre Einstellungen sind noch nicht gefestigt. Man kann also viel bewirken.
Gibt es auch Fälle, die Ihnen unter die Haut gegangen sind?
Die gibt es, ja. Als ich Ende der 1980er-Jahre meine Arbeit als Jugendanwalt aufnahm, entwickelte sich am Platzspitz in Zürich eine offene Drogenszene. Das war schrecklich. Zahlreiche junge Heroinsüchtige, mit denen wir zu tun hatten, kamen ums Leben oder erlitten schwere Schädigungen. Das hat uns Jugendanwälte und Jugendanwältinnen und die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter stark belastet. Und dann gab es auch die aus den Medien bekannten Gewalttaten wie das Tötungsdelikt an der Streetparade oder der Gewaltexzess von drei Schweizer Jugendlichen in München, die zu aufwändigen Debatten über das Jugendstrafrecht führten.
Kurz vor Ihrer Pensionierung rückte eine weitere schwere Gewalttat das Jugendstrafrecht in den Fokus: Am 2. März attackierte ein 15-jähriger Jugendlicher in Zürich einen jüdisch-orthodoxen Mann mit einem Messer und verletzte ihn schwer. Sogleich wurden Forderungen nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts laut. Die Höchststrafe von maximal 1 Jahr Gefängnis sei in einem solchen Fall viel zu milde und ein Hohn für das Opfer.
Dass die Politik nach einer solchen Tat Signale setzen will, ist verständlich. Auch uns hat diese schreckliche Tat sehr betroffen gemacht. Es ist aber wichtig, dass wir kühlen Kopf bewahren. Die internationale Fachwelt ist sich einig darin, dass das Wegsperren allein nicht zu den gewünschten Resultaten führt. Unser pädagogisch ausgerichtetes Jugendstrafrecht hat sich bewährt. Es ist im Übrigen nicht so milde, wie dies mit Verweis auf die vermeintlich «härteren» Nachbarländer oft behauptet wird.
Wie meinen Sie das?
Länder wie Deutschland und Österreich führen in ihrem Jugendstrafrecht zwar deutlich längere Haftstrafen auf, ihre Mittel für den Einsatz und die Umsetzung von Schutz- und Erziehungsmassnahmen sind hingegen ein- geschränkter. Das hat zur Folge, dass die Jugendlichen ihre Strafen in vielen Fällen bloss «absitzen». In der Schweiz kommen sie nicht so einfach davon. Sie müssen sich mit ihren Taten intensiv auseinandersetzen. Sie müssen an ihren persönlichen Defiziten arbeiten und Ziele erreichen, die man zusammen vereinbart hat. Die angeordneten Schutzmassnahmen sind unbefristet und können den Jugendlichen bis zum voll- endeten 25. Lebensjahr auferlegt werden. Der Vorrang der Schutzmassnahmen im schweizerischen Jugendstrafrecht hat sich bewährt, viele Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarländern beneiden uns um unser Jugendstrafrecht.
Viele Opfer aber betrachten die «milden Strafen» als ungerecht. Sie wollen eine angemessene Vergeltung.
Es trifft zu, dass das Jugendstrafrecht kaum Gerechtigkeit für die Opfer schafft. Im Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht, das auf die Tat fokussiert und Vergeltung beinhaltet, ist das Jugendstrafrecht ein «Täterrecht» – darauf ausgelegt, dass der jugendliche Täter auf den rechten Weg findet und keine weiteren Straftaten begeht. Damit trägt das Jungendstrafrecht dazu bei, dass weniger Menschen Opfer von Gewalttaten werden.
Während Ihrer Karriere gab es Dutzende von politischen Vorstössen, die das Jugendstrafrecht betrafen. Etliche dieser Vorstösse verlangten höhere Strafen oder gar die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts. Sie haben sich während vielen Jahren mit Erfolg dafür eingesetzt, dass das aus Ihrer Sicht «stimmige Jugendstrafgesetz» nicht verändert wird. Nun aber soll die Verwahrung Eingang ins Jugendstrafgesetz finden.
Das finde ich sehr problematisch. Die Verwahrung ist schon im Erwachsenenstrafrecht ein schwieriges Instrument, und sie ist im Jugendstrafrecht noch problematischer. Die jugendlichen Täter verändern sich altersbedingt, eine zuverlässige Prognose lässt sich fast unmöglich machen. Auch die Statistik spricht gegen eine derart weitreichende Gesetzesänderung. Durch Jugendliche begangene Morde sind in der Schweiz äusserst selten. Wir brauchen die Verwahrung im Jugendstrafrecht nicht. Sollte eine Bedrohung über das 25. Altersjahr hinausgehen, haben die KESB und andere Behörden bereits heute Mittel und Möglichkeiten, diese anzugehen. Man muss in solchen Fällen vielleicht improvisieren, aber das wiegt weniger schwer als die Problematiken der Verwahrung.
Die Jugendanwaltschaften des Kantons Zürich bearbeiten jährlich etwa 6000 Fälle. Wie hoch ist der Anteil an Wiederholungstätern?
Etwa 80 Prozent der Jugendlichen kommen nur einmal mit der Jugendanwaltschaft in Kontakt. In den meisten Fällen geht es um Bagatellen. Es sind wenige Fälle, die die Jugendanwaltschaften stark beschäftigen, etwa zwei bis drei Prozent. Bei den schwerwiegenderen Fällen ordnen sie neben einer Strafe eine Schutzmassnahme an. Das kann eine Persönliche Betreuung sein, eine Therapie, ein Rayon- oder Kontaktverbot, aber auch eine offene oder geschlossene Unterbringung, welche vom Jugendgericht angeordnet werden muss.
Die Plätze für eine geschlossene Unterbringung oder betreutes Wohnen werden grösstenteils von privaten und halbprivaten Akteuren angeboten. Ist das Angebot ausreichend?
Die meisten Jugendlichen können in geeigneten Institutionen untergebracht werden. Schwierig unterzubringen sind Jugendliche, die schwere Straftaten begangen haben, als gefährlich eingestuft werden und allenfalls eine psychologisch-psychiatrische Behandlung benötigen. Hier wünschen wir uns mehr geeignete, auch geschlossene Plätze. Sinnvoll dürfte auch sein, wenn bei einer Unterbringung eines schwierigen Jugendlichen verschiedene Institutionen vermehrt zusammenarbeiten und so bei auftretenden Schwierigkeiten beispielsweise ein Timeout in einer anderen Institution bereits eingeplant werden kann.
Wie hat sich der Beruf des Jugendanwalts während Ihrer Tätigkeit bei der Jugendstrafrechtspflege verändert?
Ich war in den 1990er-Jahren als Jugendanwalt tätig. Im Vergleich zu damals haben sich vor allem die strafprozessualen Rahmenbedingungen stark verändert und das professionelle Wissen und Können ist heute auf einem viel höheren Stand.
Wie steht es um qualifizierten und engagierten Nachwuchs?
Sehr gut. Auf eine freiwerdende Jugendanwalt-Stelle erhält der Kanton jeweils zahlreiche Bewerbungen. Etwas weniger gut sieht es bei den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern aus, aber auch hier findet der Kanton nach wie vor gut qualifizierten und engagierten Nachwuchs.
Unter Ihrer Leitung hat die Oberjugendanwaltschaft zusammen mit der Wissenschaftlerin Kitty Cassée eine neue Methodik entwickelt, die eine effizientere und effektivere Strafrechtspflege gewährleisten soll. Wie funktioniert KORJUS (Kompetenz- und Risikoorientierung in der Jugendstrafrechtspflege)?
KORJUS ist ein theoretisch fundiertes Handlungsmodell für die sozialarbeiterische Abklärung der persönlichen Verhältnisse der Jugendlichen und für die Planung und Führung von jugendstrafrechtlichen Schutz- massnahmen. Um den Ansprüchen einer professionellen Beurteilung des Delinquenz-Risikos gerecht zu werden, haben wir neben der Kompetenzorientierung einen weiteren Ansatz beigezogen: die Risikoorientierung. Die Methodik integriert beide Ansätze und macht sie für die Praxis nutzbar. Der Kanton Zürich nutzt KORJUS seit 2011 zur Strukturierung sämtlicher sozialarbeiterischer Prozesse in allen Jugendanwaltschaften des Kantons. Dadurch konnte die Arbeit der Jugendstrafrechtspflege deutlich verbessert werden. Und erfreulicherweise haben inzwischen fast alle deutschsprachigen Kantone diese Methodik übernommen.
Welche Trends zeichnen sich bei der Jugendkriminalität ab?
Im Kanton Zürich hat die Jugendgewalt von 2016 bis 2021 stetig zugenommen, im Jahr 2021wurden 1014 Jugendliche wegen einer Gewalttat verzeigt. Vom Höchststand im Jahr 2009 mit 1’151 verzeigten Jugendlichen sind wir aber noch ein Stück weit entfernt; 2022 gab es einen Rückgang auf 884 Verzeigungen, 2023 wieder eine Zunahme auf 996 Verzeigte. Was auch auffällt: Das Durchschnittsalter der Beschuldigten nimmt tendenziell ab. Inzwischen liegt es bei 15,2 Jahren. Besonders stark zugelegt hat in den letzten fünf Jahren die Gruppe der 13- bis 15-Jährigen. Sie machen inzwischen 50 Prozent der Fälle aus.
Was sind die Gründe für diese Entwicklung?
Noch haben wir keine schlüssige Erklärung dafür. Es gibt sicher mehrere Faktoren, die mitspielen. Ein möglicher Grund ist, dass die Jugendlichen heute früher autonom werden und sich von zu Hause verabschieden. Auch die Nutzung von Social Media könnte eine Rolle spielen, weil die Jugendlichen immer früher mit problematischen Inhalten in Kontakt kommen. Was sich in den letzten Jahren nicht verändert hat: Jugendgewalt ist primär ein männliches Phänomen. Rund 90 Prozent der angezeigten Jugendlichen sind männlichen Geschlechts.
Ende März sind Sie in den Ruhestand getreten. Was haben Sie nun vor?
Ich habe endlich mehr Zeit für meine Familie und Freunde, das Fischen und Motorradfahren. Und sicher werde ich Neues anpacken, vielleicht ein Psychologiestudium oder eine ganz andere berufliche Tätigkeit. Ich lasse mich selbst überraschen.
Infos zu Marcel Riesen-Kupper
Marcel Riesen Kupper studierte an der HSG St. Gallen und der Uni Zürich Rechtswissenschaften. Nach dem Studium arbeitete er als Auditor bei der damaligen Bezirksanwaltschaft Winterthur und dann während drei Jahren als Auditor und juristischer Sekretär beim Bezirksgericht Winterthur. Es folgte die Tätigkeit als juristischer Sekretär an der 1. Strafkammer des Obergerichts. 1989 wurde er in Teilzeit als Jugendanwalt bei der damaligen Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich eingestellt. 2001 wurde er Stellvertretender Jugendstaatsanwalt, 2005 Jugendstaatsanwalt. Von 2006 bis zu seiner Pensionierung im Frühling 2024 leitete Marcel Riesen Kupper zunächst als Leitender Jugendstaatsanwalt und dann als Leitender Oberjugendanwalt die Zürcher Jugendanwaltschaften.
Foto: Sabina Bobst