Staatsanwalt Maye – Nicht mal ein Gerichtsprozess

Im August 2021 erschoss ein Polizist in Morges den Zürcher Roger Nzoy Wilhelm (Bild links). Nun hat der Staatsanwalt Laurent Maye (Bild rechts) das Ermittlungsverfahren geschlossen und entschieden, keine Anklage zu erheben – als wäre er der Richter. Viele Fragen bleiben offen, viele Gesichter ratlos, viele Leute kämpfen weiter.

Am 30. August 2021 steigt ein Mann kurz nach Mittag in einen Zug von Zürich nach Genf. Wenige Stunden später liegt er, von einem Polizisten erschossen, auf dem Perrons des Bahnhofs Morges. Es handelte sich dabei um 37-jährigen Zürcher Roger Nzoy Willhelm. Er war zuvor zwei Bahnarbeitern aufgefallen. Der gläubige Christ betete und stieg dann zum Gleis hinunter, sodass die Bahnmitarbeiter Angst vor einem Suizid hatten. Roger Nzoy litt zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten an psychischen Problemen und Verfolgungsängsten. Die Bahnarbeiter konnten ihn auch zunächst beruhigen, sodass er sich auf den Perron setzte. Sie verständigten dann die Polizei, damit diese helfen kann.

Die Polizei trifft drei Minuten später ein. Die vier Polizisten eilen auf das Perron und die Situation eskalierte. Roger Nzoy, der bis zu diesem Zeitpunkt niemanden bedroht hat, stürmt laut Darstellung der Polizei auf einmal mit einem Messer auf einen Polizisten los. Dieser schiesst insgesamt drei Mal. Die Polizisten legen ihm Handschellen an, entfernen einen Gegenstand, offenbar das Messer. Erste Hilfe leisten sie nicht. Das tut erst Minuten später eine herbeieilende Zivilperson. Wilhelm stirbt noch vor Ort.

Erneut Laurent Maye zuständig
Sein Fall sorgte für Aufruhr und Empörung, als bekannt wurde, dass das Opfer schwarz war. Und er war nicht das erste Opfer. Zum vierten Mal innert fünf Jahren war eine schwarze Person in den Händen der Waadtländer Polizei gestorben. Offizielle Zahlen zu Toten durch Polizeieinsätze gibt es nicht. Eine Recherche von Watson zählte in den letzten 25 Jahren 11 Tote bei Polizeieinsätzen – schweizweit. Andere Quellen sprechen von einem Toten jährlich. Dass in fünf Jahren vier Personen durch die Waadtländer Polizei umkommen, alle davon schwarz ist vorsichtig ausgedrückt, auffällig. In zwei Fällen davon kam es zu einem Gerichtsverfahren. Der Polizist, der 2016 in Bex den 27-jährigen Hervé Mandundu vor seiner Haustür erschossen hatte, wurde rechtskräftig freigesprochen: Er habe in Notwehr gehandelt, weil das Opfer ein Messer in der Hand hielt.

Im zweiten Todesfall ging es um den 39-jährigen Mike Ben Peter, der nach einer Polizeikontrolle durch sechs Lausanner Polizisten im Februar 2018 starb. Erstinstanzlich folgten dabei Freisprüche für alle Polizisten. Der Prozess, der im Juni 2023 in Renens und Lausanne stattfand, erfuhr viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, da der brutale Polizeieinsatz an den Mord von George Floyd in den USA erinnerte.

Division affaires speciales
In der Hauptverhandlung gegen die sechs Polizisten fiel vor allem eine Person negativ auf: Laurent Maye, Staatsanwalt der „Division affaires speciales“, zuständig für Ermittlungen gegen Polizeibeamte. Er ist der zweitoberste Staatsanwalt des Kantons. Die Privatklägerschaft warf ihm im Verfahren Untätigkeit und Parteilichkeit vor. Er hatte nämlich während der Strafuntersuchung kaum nach Zeugen gesucht und die beschuldigten Polizisten (nach der polizeilichen Einvernahme) nur einmal befragt. Zudem hatte er nicht verhindert, dass sich die Polizisten unmittelbar nach dem Tod von Mike Ben Peter absprechen konnten. Sie fuhren zusammen zum Polizeiposten, wo sie mehrere Stunden gemeinsam verbrachten, bevor sie einzeln befragt wurden. Auch medial wurde das passive und desinteressierte Auftreten von Maye scharf kritisiert. Der Tages-Anzeiger bezeichnete den Staatsanwalt als „Fremdkörper“, der seine Arbeit nicht mache.

Vor Gericht dann das Unglaubliche: Staatsanwalt Laurent Maye liess am letzten Prozesstag seine eigene Anklage fallen und forderte Freisprüche für alle beschuldigten Polizisten. Er hatte das Urteil wohl nur deswegen nicht eingestellt, weil die Schweizer Strafprozessordnung vorsieht, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erheben muss, wenn sie ein schuldhaftes Verhalten zumindest nicht ausschliessen kann. Anschliessend wurde medial gefragt, ob der Staatsanwalt damals nicht voreingenommen war. Darauf ging Maye nicht ein. Zur Urteilsverkündung erschien er gar nicht erst, sondern schickte einen Stellvertreter.

Zweifel an fairem Verfahren
Ausgerechnet dieser Staatsanwalt führte nun auch die Strafuntersuchung im Fall von Roger Nzoy. Die juristische Aufarbeitung des Falls zog sich über drei Jahre und kam nur schleppend voran. Im Sommer 2021 eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen den Polizisten, der Roger Nzoy erschossen hatte. In einer ersten polizeilichen Einvernahme sagte der Polizist unmittelbar nach der Tat seinen Kollegen, er habe um sein Leben gefürchtet, da Nzoy mit einem Messer auf ihn zugerannt sei. Er habe deshalb keine Wahl gehabt, als zu schiessen. Er musste sich selbst verteidigen.

Im Sommer 2023 lud Staatsanwalt May den Polizisten zur Einvernahme. Die Republik erfuhr detailliert von den gemachten Aussagen, die den bisher bekannten Informationen über den Tathergang widersprachen und ein neues Licht auf die Ereignisse warfen. Erstens sagte der Polizist aus, er habe vorgängig nicht gewusst, dass es sich bei Nzoy um einen verwirrten Mann handelte. Die Basis­information über Funk habe gelautet: Eine gefährdete Person befinde sich auf den Gleisen. Er habe erst vor Ort festgestellt, dass Nzoy ein „seltsames Verhalten“ an den Tag lege, wie er gegenüber dem Staatsanwalt ausführte. Diese Information habe er vorgängig nicht über den Polizeifunk erhalten.

Verwirrende Informationslage
Die Polizei schrieb jedoch später in einer Medienmitteilung, Nzoy sei als „perturbé“, also „verwirrt“, angekündigt worden. Bereits der Bahnarbeiter, der die Polizei zu Hilfe rief, hatte Nzoy für „verrückt“ und suizidal gehalten. Das sagte er damals der Polizei. Warum wusste der Polizist nichts davon? Und welchen Einfluss hatte diese fehlende Information auf seine Einschätzung der Lage? Diese Fragen sind bis heute ungeklärt.

Zweitens sagte der Polizist gegenüber der Staatsanwaltschaft aus, dass er das Messer, mit dem Nzoy auf ihn losgegangen war und das ihn um sein Leben habe fürchten liess, selbst nicht gesehen habe. Jedenfalls nicht, als er die ersten zwei Schüsse auf Nzoy abgab und dieser nach vorne stürzte. „Ich erinnere mich auch nicht, das Messer gesehen zu haben, als er davor auf mich zurannte“, gab der Polizist dem Staatsanwalt zu Protokoll. Ein anwesender Kollege auf dem Perron habe ihm zuvor mitgeteilt, dass ein Messer im Spiel sei.

Eine weitere Ungereimtheit ist: Nach dem tödlichen Vorfall in Morges behauptete die Polizei in einer Medienmitteilung, die Polizisten hätten Erste Hilfe geleistet. Diverse Videos zeigen aber, dass sie mehrere Minuten tatenlos um das Opfer herumstanden, ehe ein Passant dem Opfer zu Hilfe eilte.

Bundesgericht erlaubte Akteneinsicht der Polizisten
Die Angehörigen von Nzoy zweifeln indes nicht nur an den Aussagen der beteiligten Polizisten, sondern auch am Vorgehen der Staatsanwaltschaft, die gegen die Polizei ermitteln soll. Da die Polizisten den sterbenden Nzoy minutenlang blutend am Boden liegen liessen und niemand prüfte, ob er noch lebte, wollten sie, dass die Strafuntersuchung ausgeweitet und nicht nur der Schütze angeklagt wird, sondern auch die anderen anwesenden Polizisten. Der Vorwurf: unterlassene Hilfeleistung.

Maye ging in einem Schreiben von Mitte Juli 2022 nicht auf das Anliegen ein: Es sei zu früh, darüber zu entscheiden. Damit galten die Polizisten, ausser dem Schützen, im Verfahren weiterhin als Auskunftspersonen. Noch am gleichen Tag gewährte er den drei aber Akteneinsicht, sodass sie ihre eigenen Einvernahmen nachlesen können. Der Anwalt der Angehörigen ging dagegen vor, weil eine Kollusionsgefahr bestehe, sollten die Polizisten doch noch zu Beschuldigten im Verfahren werden. Das Bundesgericht hat diesen Rekurs im Juni 2023 abgelehnt, äusserte sich aber nicht zur Frage, ob die Ermittlungen auf weitere Polizisten ausgeweitet werden sollen.

Externe Kommission
Da bereits im Oktober 2023 durchsickerte, dass Laurent Maye eine Einstellungsverfügung erlassen könnte und festgestellt wurde, dass es in der Schweiz keine unabhängige Instanz zur Untersuchung von Polizeigewalt gibt, gründete sich die „Unabhängige Expert:innen-Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Roger Nzoy Wilhelm“. Sie ist eine unabhängige, zivilrechtliche Kommission mit Expert:innen aus Rechtswissenschaft, Medizin und Forensik, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Umstände, die zum Tod von Roger Nzoy Wilhelm geführt haben, umfassend aufzuklären.

Dass eine solche Instanz schon einmal sehr erfolgreich und wichtig war, zeigte der Fall von Oury Jalloh. Dieser wurde im Gefängnis in Dessau von der Polizei zusammengeschlagen und verbrannte. Eine internationale unabhängige Kommission deckte nicht nur schwerwiegende Mängel bei der Aufarbeitung des Falles Oury Jalloh auf, sondern enthüllte auch systematische Diskriminierung, Vertuschung von Indizien durch Polizei und Staatsanwaltschaft sowie andere Tötungen durch die Polizei in derselben Polizeiwache.

Am 20.11.2023 legte die Kommission ihre ersten Ergebnisse vor. Elio Panese vom Institut Border Forensics wies darin nach, dass die Polizeibeamten keine Rettungs- oder Wiederbelebungsmassnahmen einleiteten und stattdessen Sicherheitsmanipulationen vornahmen, während Roger Nzoy Wilhelm am Boden lag und keine Bedrohung von ihm ausging. Eine wichtige Funkaufnahme, die zeigt, dass erst sehr spät Rettungsmassnahmen eingeleitet wurden, ist nicht in der Akte der Staatsanwaltschaft enthalten.

Ein medizinisches Gutachten zeigt zudem, dass Nzoy noch minutenlang weiterlebte und nicht in eine sichere Position gebracht wurde. „Es wäre wichtig gewesen, dass sie, anstatt ihn mit Handschellen zu fesseln, auch nur eine grundlegende Wiederbelebung durchgeführt hätten, und sie hätten sich nicht gefährdet“, sagte Martin Hermann, Facharzt für Allgemeine Chirurgie.

Ausbildung
Udo Rauchfleisch
, emeritierter Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel, sagte zur unerwarteten Eskalation der Situation: „Wir wissen aus dem Umgang mit psychisch Kranken generell – und das gilt nicht nur für die Mitarbeitenden in der Psychiatrie, sondern das ist auch in Polizeikreisen bekannt, dass eine der wichtigsten Massnahmen, sozusagen eine Grundregel, ist, eine Konfrontation mit mehreren Personen unbedingt zu vermeiden. Das Wichtigste wäre, dass eine Person auf die psychisch kranke Person zugeht, ruhig mit ihr redet, beruhigend auf sie einwirkt, so wie es der Mechaniker am Anfang gemacht hat. Dann wäre die ganze Situation nicht eskaliert.

Brigitte Lembwadio Kanyama, Rechtsanwältin, hob zudem hervor, dass in der Schweiz keine Statistik zu Ethnien und Herkunft erhoben werden. „So müssen wir uns für eine Analyse auf die Medienberichterstattung und auf einige Daten von Verbänden stützen; diese zeigen, dass es in der Romandie (und insbesondere im Kanton Waadt) seit etwa zehn Jahren mehrere Todesfälle nach Polizeieinsätzen gibt. Und es zeigt sich, dass es sich in nahezu 100 % der Fälle bei den Opfern um rassifizierte Personen handelt.“ Jedes Mal klagten die Angehörigen über halbherzige Ermittlungen und willkürlich abgelehnte Beweisanträge. Es bestehe Anlass zu ernster Besorgnis, dass die in den Polizeivorschriften geforderte Sorgfaltspflicht und der Grundsatz der Verhältnismässigkeit für alle Interventionen nicht eingehalten werden.

Maye stellt Verfahren ein
Ende November hat die Staatsanwaltschaft nun bekanntgegeben, dass sie das Verfahren einstellt. Sie veröffentlichte eine Medienmitteilung, in der sie die Gründe dafür erwähnte. Die Staatsanwaltschaft sagt, der schiessende Polizist habe aus Notwehr gehandelt. Der Beamte sei mit einem potenziell tödlichen Angriff konfrontiert gewesen. Der Polizist habe sich vom Angreifer wegbewegt, diesen gewarnt und damit «scheinbar» alle angemessenen Massnahmen ergriffen, um Schüsse zu verhindern. Erst im letzten Moment habe er geschossen. In seiner Analyse stellt Staatsanwalt Maye fest, dass das vom Verstorbenen angenommene Verhalten „eindeutig als Angriff“ erschien, der Polizist konnte sich also „tatsächlich von einem bevorstehenden Angriff bedroht fühlen“.

Der Anwalt von Wilhelms Familie sieht das ganz anders, wie er der NZZ gegenüber erläutert. Generell sei es nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft, „über einen Notwehr-Fall wie diesen zu entscheiden“, sagt Ludovic Tirelli. „Es stellen sich viele Fragen.“ Diese müsse ein Gericht klären. Als fragwürdige Punkte nennt er „das Vorliegen einer Bedrohung, die Wahrnehmung einer Bedrohung und Alternativen zum Umgang mit dieser Bedrohung“.

Die Staatsanwaltschaft betont in ihrer Mitteilung, dass sie eine Rekonstruktion des Geschehens in Morges durch die NGO Border Forensics gesichtet und teilweise für ihre Untersuchung genutzt habe. Anwalt Tirelli kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft nur bestimmte Elemente des NGO-Berichts berücksichtigt habe und andere ignoriere. Auf den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung, der nach StGB strafrechtlich relevant ist, geht der Staatsanwalt gar nicht erst ein, was unter anderem von der Familie stark kritisiert wird.

Kritik und Unverständnis kam auch aus der Zivilgesellschaft. Die Westschweizer Koordination Justice 4 Nzoy benannte dies als „eine politische Entscheidung, die der ganzen Gesellschaft einmal mehr zeigt, dass die Straflosigkeit des rassistischen Systems der Schweiz intakt bleiben wird, was auch immer geschehen mag“. Sie fügte hinzu: „Der Staat wird der Polizei immer vollen Schutz garantieren […], die immer mehr ermächtigt wird, Selbstjustiz zu üben“. In Zürich und Lausanne formierten sich dann auch Demonstrationen zum Entscheid.

Für die unabhängige Kommission zur Aufklärung Todes von Roger Nzoy Wilhelm kommt die Einstellung des Falls durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt „leider wenig überraschend“, so schockierend sie auch sei. Sie kritisiert die „Parteilichkeit“ dieser Entscheidung. Der
Staatsanwalt gebärde sich „als Schiedsrichter, obwohl diese Funktion im Fall von mutmasslicher Tötung durch Staatsbedienstete dem Gericht
zukommt“.

Ein zu grosser Filz
Fragen drängt sich auf: Kann eine Staatsanwaltschaft gegenüber Polizisten des eigenen Kantons überhaupt unabhängig ermitteln und gegebenenfalls Anklage erheben? Die beiden Instanzen arbeiten eng zusammen und hängen voneinander ab. In den Kantonen sind jeweils die Staatsanwaltschaften für Ermittlungen gegen Polizisten zuständig. Grössere Kantone, wie die Waadt, haben dafür eigene Einheiten. Es kann auch vorkommen, dass ausserkantonale Staatsanwälte eingesetzt werden, so geschehen im Kanton Luzern bei Ermittlungen gegen das Obere Polizeikader oder in St. Gallen.

Marc Thommen, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Uni Zürich, beurteilte in der NZZ die Praxis der Kantone kritisch. Rechtlich sehe die Strafprozessordnung vor, dass die Polizei der Aufsicht und den Weisungen der Staatsanwaltschaft unterstehe. Andererseits komme es nicht nur auf die rechtliche, sondern auch auf die faktische Unabhängigkeit an. Darauf also, wie eng Polizei und Staatsanwaltschaft im Alltag zusammenarbeiten und wie oft sie aufeinandertreffen. Bei tödlicher Polizeigewalt habe eine Untersuchung durch eine unabhängige Behörde stattzufinden, erklärt Thommen. Diese Forderung leiten sowohl das Bundesgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus dem Recht auf Leben ab. Das bedeute, dass die untersuchenden Personen von den an der Tötung beteiligten Personen rechtlich und faktisch unabhängig sein müssen.

Praktische Überlegungen sind dafür relevant: Eine kantonale Behörde will ihre eigene Polizei, mit der sie täglich zusammenarbeitet, nicht «in die Pfanne hauen». Werde eine Verfahrenseinstellung angefochten, so müsse die Staatsanwaltschaft nicht aus eigener Überzeugung, sondern auf Weisung des Gerichts Prozess führen, argumentiert Thommen. So geschah dies bereits im Fall von Mike Ben Peter, bei dem Thomas Maye den Fall vor Gericht bringen „musste“. Der Opferanwalt Ludovic Tirelli hat bereits jetzt angekündigt Einspruch vor dem Kantonsgericht zu erheben. Es ist sicher nicht das letzte Kapitel in diesem Fall.

Kommentar

Struktureller Rassismus bei Polizei und Rechtsbehörden ist leider nichts Neues. Davon zeugen nicht nur die Zahlen und Verfahren aus der Waadt. Zu diesem Schluss kam 2022 auch eine Expertengruppe der UNO. Auf Bundesebene bestehe guter Wille, doch kommt es bei Polizeieinsätzen und vor Gericht immer wieder zu Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, schreiben die Vertreterinnen und Vertreter der Expertengruppe. Teil des Problems sind dabei die verschiedenen Ebenen von Bund, Kantonen und Gemeinden, wo Bewusstsein und Lösungswille nicht überall gleich ausgebildet sind. Verbale Angriffe und Herabsetzung gehören zur täglichen Erfahrung der meisten Menschen afrikanischer Herkunft. Zudem fehlen zentral erfasste Daten zum sogenannten Racial Profiling (rassistische Diskriminierung) durch Polizei und Justiz, in Bildungsinstitutionen oder am Arbeitsplatz. Vor allem kritisieren Experten, dass es nach wie vor keinen unabhängigen Untersuchungs- und Beschwerdemechanismus für Fälle rassistischer Diskriminierung gibt. Auch Gesetzeslücken müssen geschlossen werden; denn das Fehlen einer zivilrechtlichen Grundlage erschwert die Bekämpfung und bietet Opfern in grundlegenden Lebensbereichen, wie Wohnen und Arbeiten, keinen Schutz. Dass es sich dabei nicht um ein Randphänomen handelt, zeigt auch der Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) von 2020. Dieser rügt die Schweiz für das Fehlverhalten der Schweizer Polizei und des ungenügenden rechtlichen Schutzes vor Racial Profiling. Ein erster Schritt in Richtung eines besseren Schutzes der Betroffenen wären unabhängige Instanzen und Verfahren, also ausserkantonale Staatsanwaltschaften oder eine zentrale Bundesstelle, die nur dafür zuständig wäre. Das wäre das Mindeste, damit sich alle, und gerade schwarze Personen, in der Schweiz sicherer fühlen können. Marc Huber

Bild unten: Demonstration «Justice 4 Nzoy » im September 2022

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