Verteidigung verlangt Freispruch, Staatsanwaltschaft 30 Monate

Vor dem Regionalgericht Plessur ist am Freitagabend der Prozess gegen den ehemaligen Verwaltungsrichter zu Ende gegangen. Die Staatsanwaltschaft verlangte für die Vergewaltigung, die sexuellen Belästigungen und die Drohung eine Freiheitsstrafe von 30 Monaten,  eine bedingte Geldstrafe von 60 Tagen à 90 Franken, total also CHF 5’400, sowie eine Busse von CHF 3’300. Die Verteidigung verlangte einen Freispruch. Das Gericht wird bis in einer Woche entscheiden.

 

(Bild: Grossratsgebäude Chur – Hier fand die Hauptverhandlung statt)

Weil bedingte Strafen nur bis zur maximalen Höhe von 24 Monaten ausgefällt werden können, müsste der angeklagte Richter also zumindest für sechs Monate ins Gefängnis, falls das Gericht den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgt.

Am zweiten Tag des Prozesses folgten am Freitag die Plädoyers, schon am Donnerstag waren die Befragungen durchgeführt worden. Das Gericht tagte in Dreierbesetzung mit Bettina Flütsch als Vorsitzende sowie den weiteren Richtern Paul Schwendener und Hermi Saluz.

Staatsanwaltschaft hält die Aussagen des Opfers für glaubwürdiger

Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft wurde abwechselnd von der fallführenden Staatsanwältin Corina Collenberg und dem Leitenden Staatsanwalt Maurus Eckert vorgetragen. Die Staatsanwaltschaft kritisiere gleich zu Beginn das noch nicht einmal gehaltene Plädoyer der Verteidigung. Vorwürfe der Verteidigung wegen eines falschen Rollenverständnisses der Staatsanwaltschaft oder wegen einer medialen Vorverurteilung dürften nicht darüber hinwegtäuschen, «warum heute alle hier sind.» Eckert versuchte damit wohl, prospektiv Kritik an der Verfahrensführung zu relativieren, die insbesondere INSIDE JUSTIZ bereits vor zwei Jahren publik gemacht hatte. Die Staatsanwaltschaft Graubünden hatte es über Monate verpasst, wichtige Zeugen einzuvernehmen, es wurden nie Hausdurchsuchungen oder Spurensicherungen durchgeführt, auch die Informatikmittel wurden nicht forensisch untersucht.

Staatsanwältin Collenberg führte aus, die Aussagen der ehemaligen Praktikantin seien detailreich, schlüssig und insgesamt glaubhaft. Beim Beschuldigten hingegen herrschte eine «niedrige Aussagequalität», der Beschuldigte sei bei vielen Begebenheiten nicht in der Lage gewesen, eine überzeugende Aussage zu machen.

Verteidigung verlangt Freispruch

Nach der Mittagspause sprachen die Verteidiger des beschuldigten Ex-Richters, die Rechtsanwälte Martin Suenderhauf und Tanja Knodel. In einem rund siebenstündigen Plädoyer forderten sie einen Freispruch für ihren Mandanten und kritisieren zunächst die Arbeit der Staatsanwaltschaft. So seien Ton- oder Videoaufnahmen einer Befragung der Praktikantin der Verteidigung nie zugestellt worden, diese habe zudem verschwiegen, dass sie nach dem Ende ihres Praktikums noch einmal im Gerichtsgebäude war und dort «mutmasslich Daten gelöscht habe.» Auch der Chatverlauf zwischen der Praktikantin und dem Richter sei nicht vollständig, es sei deshalb nicht auszuschliessen, dass gewissen Nachrichten durch die junge Frau gelöscht worden waren.  Zudem sei die Berichterstattung der Medien «tendenziös» gewesen.

Die Frau wehrte sich zu wenig

Auch die Schilderung des eigentlichen Tatablaufs am 13. Dezember 2021, dem Tag der Vergewaltigung, wird von der Verteidigung in Zweifel gezogen. Die Praktikantin habe genug Zeit und Raum gehabt, die Avancen des Richters zurückzuweisen und den Raum zu verlassen. «Sie hätte ihm ja eine runterhauen können.» Zudem sei es unmöglich, bei zusammengepressten Beinen penetriert zu werden – «das hätte sie halt tun müssen», so Rechtsanwalt Suenderhauf. – Eine Aussage, die nicht nur, aber besonders in Juristenkreisen postwendend für heftige Reaktionen sorgte. Anstelle vieler Beispiele sei auf die Diskussion unter dem LinkedIn-Profil des Zürcher Strafverteidigers Duri Bonin verwiesen.

Das mutmassliche Opfer hingegen sei eine «Femme fatale» gewesen und habe sich dem Richter geradezu aufgedrängt: Der Kontakt zwischen Richter und Opfer sei hauptsächlich von der Praktikantin ausgegangen. Zudem gebe es zu viele Ungereimtheiten in den Schilderungen

Zu einem Schlüsselmoment kommt es auch, als Verteidiger Suenderhauf, im Nebenamt auch noch Präsident der Katholischen Kirchgemeinde Chur, meint: «Ein Nein reicht eben nicht.» – Es schien, als ob die gesamte Debatte in den eidgenössischen Parlamenten zur Revision des Sexualstrafrechts unter der Formel «Ein Nein ist ein Nein» oder «Nur ein Ja ist ein Ja» an Suenderhauf vorbeigegangen wäre. –  Oder gleich am ganzen Kanton Graubünden?

Am ersten Tag des Prozesses hatte sich nämlich schon Richter Hermi Saluz den Zorn vieler Prozessbeobachter zugezogen, als er die Praktikantin fragte, warum sie nicht einfach die Beine zusammengepresst habe – seiner Erfahrung zufolge wäre dann eine Penetration unmöglich. Eine Frage, die in der Berichterstattung des TAGESANZEIGERS zu dem Fall für heftige Reaktionen der Leserschaft führten. «Das heisst, er hat es schon mehrmals gegen den Willen der Frau versucht», fragt sich Leser Nico Mavelli. Und A. Escher fordert: «Die Aussage des Richters zeigt, dass er weder das Wissen, die Professionalität noch die Menschenkenntnisse hat, um solche Prozesse oder allenfalls überhaupt diesen Beruf auszuüben. Ich erwarte vom Kanton Graubünden, dass dies Konsequenzen hat.»

Schilderung des Tatverlaufes unrealistisch

In der Hauptsache argumentiert die Verteidigung, der Tatverlauf könne sich nicht so abgespielt haben, wie das vom Opfer geschildert worden sei. die Praktikantin habe keine Verletzungen gehabt, die auf die Tat zurückgehen könnte. Es seien an ihr nirgends Rötungen, Blutergüsse oder Verletzungen festgestellt worden. Zudem habe man weder an der Frau weder Sperma- noch Speichelspuren des Beschuldigten gefunden. – Zu der Frage, wie dann die DNA des Beschuldigten in die Vagina des Opfers kam, schweigt sich die Verteidigung in ihrem rund siebenstündigen Plädoyer aus.

Kurzum: Wenn die Vorgänge sich so abgespielt hätten, wie behauptet, hätte das Opfer Blessuren haben müssen – das habe sie aber nicht, was zeige, dass keine Gewalt angewendet worden sei.  Gewaltanwendung sei aber eben eine Voraussetzung für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung.

Suenderhauf machte auch – zu Recht – darauf aufmerksam, dass vorliegend die altrechtliche Fassung des Vergewaltigungsstrafbestandes zu berücksichtigen sei: Zum Zeitpunkt der Tat galt tatsächlich das Strafgesetzbuch in der Fassung vom 1.7.2021 – das unterdessen gültige, neue Sexualstrafrecht trat erst am 1. Juli 2024 in Kraft.

Vergewaltigungsstraftatbestand neurechtlich (gültig seit dem 1.7.2024)

Art. 190

1 Wer gegen den Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, an dieser vornimmt oder von dieser vornehmen lässt oder zu diesem Zweck einen Schockzustand einer Person ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.

2 Wer eine Person zur Vornahme oder Duldung des Beischlafs oder einer beischlafsähnlichen Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

3 Handelt der Täter nach Absatz 2 grausam, verwendet er eine gefährliche Waffe oder einen anderen gefährlichen Gegenstand, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.

Vergewaltigungsstaftatbestand altrechtlich (StGB in der Version vom 1.7.2021, geltendes Recht zum Zeitpunkt der mutmasslichen Tat )

Art. 190

1 Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

2 … (aufgehoben)

3 Handelt der Täter grausam, verwendet er namentlich eine gefährliche Waffe oder einen anderen gefährlichen Gegenstand, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.232

Wichtig in diesem Zusammenhang: Die Literatur geht davon aus, dass auch «Festhalten» unter dem Gewaltbegriff zu subsummieren ist – so etwa Philipp Maier im «Basler Kommentar Strafrecht».

Sexuelle Belästigungen: Verjährt?

Verteidigerin Knodel beantragte zunächst, die Mehrzahl der angeklagten sexuellen Belästigungen einzustellen, weil die Taten verjährt seien. Die Verjährungsfrist für diese Delikte beträgt drei Jahre, tatsächlich hatten viele der Belästigungen schon vor dem 7. November 2021 stattgefunden (an diesem Tag wird das erstinstanzliche Urteil frühestens erwartet, das für die Verjährungsfrist massgeblich ist.) Die Opferanwältin Silvia Daeppen macht hingegen geltend,  die Belästigungen seien nicht einzeln, sondern als fortgesetztes Dauerdelikt zu betrachten. Bei dieser Betrachtungsweise würde die Verjährung erst drei Jahre nach der letzten deliktischen Handlung eintreten.

Im strafrechtlichen Sinne fallen unter sexuelle Belästigungen einerseits tätliche sexuelle Belästigungen, wie vorliegend die zur Debatte stehenden mutmasslichen Versuche des Angeklagten, die Praktikantin zu küssen oder sein Glied an ihr zu reiben. Andererseits können aber auch verbale Belästigungen den Straftatbestand erfüllen, wenn sie in grober Weise erfolgen. Die Verteidigung machte geltend, es habe sich gerade bei den Chatnachrichten nicht um eine einseitige Belästigung gehandelt – die Praktikantin habe oft reagiert und zurückgeschrieben, zudem seien die Nachrichten weder «derb»  noch «vulgär» gewesen.

Auch die Drohung soll keine gewesen sein

Die anonymen Schreiben des Angeklagten mit der Drohung, es sei dafür gesorgt, dass sie (die ehemalige Praktikantin und ihr Freund) die Anwaltsprüfung nicht bestehen werden, sind der einzige Anklagepunkt, den der Beschuldigte einräumte – nachdem ihm die Schreiben aufgrund des Zahlungsnachweises für das Porto über Twint und einen DNA-Test gerichtsfest nachgewiesen werden konnten.

Verteidigerin Knobel räumt ein, die Tat sei «unentschuldbar», sieht den Tatbestand der Drohung aber nicht erfüllt. Und argumentiert, der Beschuldigte habe gar keinen Einfluss auf das Bestehen der Prüfung gehabt. Die Argumentation der Verteidigung überzeugt aber wenig, hat das Bundesgericht doch in BGE 106 IV 125 klar festgehalten, es sei nicht erforderlich, dass der Täter seine Androhung eines ernstlichen Nachteils tatsächlich auch wahrmachen kann: «Es genügt, wenn der Eintritt des Übels nach der Darstellung des Täters als von seinem Willen abhängig erscheint.»

Nach rund sieben Stunden Plädoyer schliesst Knodel mit der Aussage, es gebe in diesem Falle zu viele Unstimmigkeiten, die das Gericht nicht ignorieren sollte.

Wenig Erhellendes während den Befragungen

Bereits am Donnerstag hatten die Befragungen in dem Fall stattgefunden. Für regelmässige Leserinnen und Leser von INSIDE JUSTIZ ergaben sich dabei kaum neue Erkenntnisse.

Zu Beginn der Verhandlung wurde eine damalige Mitarbeiterin des Verwaltungsgerichts befragt, an dem sich die angeklagten Vorgänge abgespielt haben sollen. Sie bestätigte, mit dem Angeklagten gut zusammengearbeitet zu haben, antwortete im Weiteren zu einem Grossteil der Fragen aber damit, dass sie sich nicht erinnern könne – was nach fast drei Jahren wenig verwunderte. Auch erst auf Nachfrage konnte sie sich dann erinnern, dass die Praktikantin einmal in einer Pause gesagt hatte, sie fände die Absage des Weihnachtsessens (im Winter 2021) schade, weil sie sich auf das Essen und die offenbar damit verbundene Kutschenfahrt mit dem Richter gefreut hatte.

Anschliessend kommt die ehemalige Praktikantin zur Befragung. Von Aktualität sind insbesondere ihre Ausführungen zu den neu und erst in der Anklageschrift bekanntgewordenen Drohbriefen, welche der Angeklagte dem Opfer und ihrem Freund kurz vor der Anwaltsprüfung zugeschickt hatte und in welchen er angekündigt hatte, es sei dafür gesorgt, dass sie die Prüfungen nicht bestehen würde. Sie sei nach dem Drohbrief wieder krankgeschrieben gewesen, erzählt die junge Frau. Seit sie diesen Brief erhalten habe, habe sie grosse Angst vor dem Beschuldigten.

Wie sich die Situation immer mehr zuspitzte

Weiter gibt sie zu Protokoll, wie sich die Situation zugespitzt hatte von anfänglichen «schlüpfrigen Nachrichten», über Berührungen bis schliesslich zu der Vergewaltigung. Die ehemalige Praktikantin erzählt, wie sie mit ihrem Umfeld darüber gesprochen hatte, wie sie mit der Situation umgehen soll, wie sie hin- und hergerissen war und sich um ihre Karriere sorgte, weil sie den Richter als mächtig wahrnahm und ihn deshalb nicht brüskieren wollte. Verschiedene Aussagen des Richters qualifiziert sie als Lügen, beispielsweise die Behauptung, sie habe dem Richter ein Schokoladenherz übergeben mit den Worten: «I schenke dir mis Herz.»

Am Nachmittag erzählt zunächst der Freund des mutmasslichen Opfers, wie er die Situation erlebt hatte. Er schildert, wie belastend die Situation nach dem Vorfall gewesen sei und wie sie sich entschieden hatten, aus dem Kanton wegzuziehen, aus Sorge um den Bündner Filz. Als dann der Drohbrief eingetroffen sei, habe auch er körperlich gelitten, mit starken Bauchschmerzen, Durchfall und Kopfweh.

Einvernahme des Beschuldigten: «Es war eine Kombination aus Flirt und Affäre»

Zum Schluss des ersten Tages wurde der Beschuldigte vom Gericht vernommen. Er stellt sich als Opfer dar: Es gehe ihm schlecht aufgrund der medialen Vorverurteilung und der ungerechtfertigten Strafverfolgung. Zu dem Abend vom 13. Dezember sagt er, es stimme nicht, dass er die Praktikantin zu sich zitiert habe, wie es in der Anklageschrift steht, er wisse aber auch nicht mehr genau, warum sie in sein Büro gekommen war.

Die Praktikantin habe ihn dann über der Hose zwischen seinen Beinen angefasst, erzählt er, und er habe dasselbe bei ihr gemacht. Nach 10 bis 15 Minuten hätten sie sich angezogen und zusammen Musik gehört. Der Beschuldigte bestreitet, dass es zu einer Penetration gekommen sei. Die Antwort auf die Frage der Richterin, wie denn seine DNA in die Vagina der Praktikantin hätte kommen können, fällt so leise aus, dass die Gerichtsberichterstatter sie nicht verstehen. Für ihn sei es ein Flirt, eine Liebschaft gewesen, die beide gewollt hätten.

Abschiedsgeschenk soll beweisen, dass alles einvernehmlich war

Zum Abschluss des ersten Tages setzte die Verteidigung des Beschuldigten zu einem Befreiungsschlag an und legt ein Stück Papier vor, auf dem «Danke für die schö Ziit» steht. Das Briefchen sei damals von Guetsli begleitet gewesen, die Praktikantin hätte es dem Richter geschenkt. Der Gedanke dahinter ist klar: Wie hätten die sexuellen Handlungen nicht im Konsens stattfinden sollen, wenn die Praktikantin dem Richter danach ein solches Geschenk macht?

Die Praktikantin wird zu dem Vorgang noch einmal hereingebeten und befragt. Sie erzählt, sie und ihr Mit-Praktikant hätten dieses Geschenk zusammen gefertigt,  alle am Gericht hätten ein solches Geschenk erhalten und es sei  auch auf den Zettelchen bei allen Gerichtsangestellten dasselbe draufgestanden. Im übrigen, so wird später klar, hatten sie die Abschiedsgeschenke schon vor der mutmasslichen Vergewaltigung gefertigt.

2 thoughts on “Verteidigung verlangt Freispruch, Staatsanwaltschaft 30 Monate

  1. Je länger eine Person,
    Macht, über Andere Personen ausüben kann,
    desto mehr Macht / Einfluss können Sie auf das Gegenüber Einfluss nehmen.
    Auch ein Richter sollte nach ca. vier Amtsjahren,
    nur noch als beratende Person Einfluss nehmen können,
    um so, sich sich nicht als übermächtige Person zu fühlen.

  2. Es ist nur eine Frage der Zeit,bis all den Straftäter der Gerichte Staatsanwaltschaften Polizei etc.selbst der Prozess gemacht wird.Denn viele Justiz Opfer erleben den Filz ,Absprachen und den Einfluss von gewissen Organisationen.

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