Das Bundesgericht kassiert den Entscheid SB230113 O/U/cwo des Zürcher Obergerichts im Raiffeisen-Prozess. Journalisten und Juristen sprechen von einer Blamage für das höchste Zürcher Gericht. Dieses hatte am 25. Januar 2024 noch entschieden, die Anklageschrift in dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Bezirksgericht Zürich gegen die Hauptangeklagten Beat Stocker und Pierin Vincenz habe den Anforderungen der Strafprozessordnung nicht genügt. – Stimmt nicht, findet jetzt das Bundesgericht in Entscheid 7B_256/2024. Das heisst: Der Fall muss (zumindest vorerst) nicht noch einmal von Grund auf neu aufgerollt und vor Bezirksgericht neu verhandelt werden. Das Obergericht muss dafür das Berufungsverfahren zu Ende führen.
Es ist ein weiterer Paukenschlag in einem Fall, in dem sich die Justiz in den Augen verschiedener Beobachter mehr und mehr blamiert. Das begann damit, dass schon während des Untersuchungsverfahrens immer wieder Akten der Staatsanwaltschaft an die Medien durchgestossen wurden – regelmässig zum Nachteil der Beschuldigten. Auch das heutige Bundesgerichtsurteil wurde einzelnen Medien vorab zugespielt, die dann teilweise in einer derart überschwänglich-unjournalistischen Art Lobeshymnen auf den fallführenden Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel publizierten, dass in der Zürcher Juristenszene unweigerlich der Verdacht aufkam, die mit journalistischer Distanz nicht mehr zu vereinbarenden Worte seien wohl mehr als Dank für eine wie auch immer geartete Gefälligkeit zu verstehen.
Immer wieder Negativschlagzeilen
Aber nicht genug der seltsamen Schlagzeilen. Die erste Gerichtsinstanz, das Zürcher Bezirksgericht unter Leitung von Richter Sebastian Aeppli (Grüne), sah sich 2022 ausserstande, für die Hauptverhandlung eine Lokalität zu organisieren, welche ausreichend Platz bot für die interessierte Journaille. An einzelnen Verhandlungstagen wurden deshalb Medienschaffende ausgeschlossen – was mit dem Öffentlichkeitsprinzip bei Strafprozessen grundsätzlich nicht vereinbar ist. Dann versprach Aeppli bei der Urteilsverkündung im April 2022, die schriftliche Begründung würde im Sommer vorliegen. Es dauerte schliesslich ein halbes Jahr länger bis Januar 2023.
Rund ein Jahr später dann der nächste Paukenschlag. Zur Überraschung vieler kamen die Zürcher Oberrichter Christian Prinz (GLP), Maya Knüsel (SVP) und Roberto Faga (FDP) zum Schluss, die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft erfülle die gesetzlichen Anforderungen nicht, da zu ausschweifig. Zudem seien einem französischsprachigen Angeklagten die Akten nicht in seine Muttersprache übersetzt worden. Damit leide der erstinstanzliche Prozess an nicht heilbaren Mängeln. Das Obergericht hob das Urteil des Bezirksgerichts auf und wies die Staatsanwaltschaft an, eine neue Anklageschrift im Sinne der Erwägungen auszuarbeiten. Auf die inhaltlichen Beschwerdepunkte der Berufungskläger ging das Obergericht gar nicht mehr ein. Im Klartext: Der Fall hätte komplett neu aufgerollt werden müssen.
Noch immer Fragezeichen wirft auch auf, dass die Staatsanwaltschaft, wie sie im Nachgang an das Urteil des Obergerichts selbst einräumte, offenbar mindestens einen externen Experten beigezogen hatte, um die Anklageschrift extern zu überprüfen. Den Beschuldigten, die Anspruch auf vollständige Akteneinsicht haben, wurde dies allerdings nie eröffnet. Dieser Schritt wurde von Experten unisono als hochgradig fragwürdig eingestuft. Die Kritik reichte bis hoch zur sowieso skandalgeschüttelten Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr, die im Kantonsrat den Parlamentarierinnen und Parlamentariern jede Auskunft zu dem Vorgang verweigert.
Und heute jetzt der neuste Coup: Mit Datum vom 17. Februar 2025 hoben die Bundesrichter Bernard Abrecht (SP), Sonja Koch (SVP), Christoph Hurni (GLP), Christian Kölz (Grüne) und Yann-Eric Hofmann (Mitte) den Entscheid des Zürcher Obergerichts auf.
Wie ausführlich soll eine Anklageschrift sein?
Inhaltlich geht es bei der Streitfrage letztlich um eine Formalie, nämlich die, wie ausführlich eine Anklageschrift sein soll. Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel schrieb eine Anklage von ganzen 356 Seiten, dazu einen Fussnotenapparat von noch einmal 100 Seiten. Das sei zu viel, fand damals das Obergericht, die Anklageschrift entspräche eher einem Plädoyer und würde damit die Anforderungen von Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO nicht erfüllen.
Die Bundesrichter halten zunächst fest, dass – anders als die Staatsanwaltschaft offenbar behauptete – eine Anklageschrift sehr wohl zu ausführlich sein könne. Die Richter begründen das insbesondere mit der Waffengleichheit: Weil die Anklageschrift schon vor der Hauptverhandlung ans Gericht eingereicht wird, der Beschuldigte sich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht äussern könne, müsse vermieden werden, dass das Gericht durch eine zu ausführliche Anklageschrift bereits beeinflusst sei.
Dann erwägt das Bundesgericht allerdings, die verschiedenen Delikte, die den zwei Haupt- und fünf Nebentätern zur Last gelegt worden seien, seien durchwegs komplex: «Die Schwere sowie die tatsächliche und rechtliche Komplexität der den sieben Beschuldigten vorgeworfenen Straftaten verlangen deshalb insgesamt nach einer deutlich überdurchschnittlich detaillierten Anklageschrift», so das Bundesgericht.
In eine ähnliche Richtung argumentiert das Bundesgericht auch beim Punkt der «Rechtserörterungen». Die Anklageschrift hatte über 70 Seiten den Inhalt der Tatbestände beschrieben und argumentiert, warum die einzelnen Tatbestandsmerkmale erfüllt gewesen seien. Was das Zürcher Obergericht noch rügte, wird von Bundesgericht nun gar als Notwendigkeit definiert: «Die beschuldigte Person hat aus der Anklageschrift zu erfahren, wie die Staatsanwaltschaft das ihr vorgeworfene Verhalten rechtlich würdigt. Dieser Anspruch ergibt sich bereits aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK, wonach die angeklagte Person auch in allen Einzelheiten über die rechtliche Qualifikation des ihr vorgeworfenen Verhaltens zu informieren ist.»
Auch 930 Aktenverweise sind laut Bundesgericht ok
Auch in den 930 Aktenverweisen, grösstenteils in Form von Endnoten, sieht das Bundesgericht am Ende keine Rechtsverletzung. Das Bundesgericht hät zunächst fest, in der eingereichten Anklageschrift seien zwar die Endnoten-Nummerierungen enthalten gewesen, nicht aber die eigentlichen Endnoten – diese hätte die Staatsanwaltschaft erst zur Hauptverhandlung übergeben. «Darüber hinaus hat es die Rechtsprechung verschiedentlich für zulässig erklärt, auch die Anklage selbst direkt mit Verweisen auf die Untersuchungsakten zu versehen, auch wenn Aktenverweise nach Art. 325 StPO eigentlich nicht in die Anklageschrift gehören», schreibt das Bundesgericht. Hintergrund der Kontroverse ist auch hier die Frage, ob das Gericht mit einer Anklageschrift, welche mit einem dichten Netz von Verweisen auf Beweismittel argumentiert, unzulässig beeinflusst wird. «Die (zunächst inhaltsleeren) Endnoten in der Anklageschrift vom 26. Oktober 2020 bringen einzig zum Ausdruck, dass die Staatsanwaltschaft der Auffassung ist, eine Tatsache lasse sich aufgrund der im Vorverfahren erhobenen Beweismittel – wahrscheinlich – zur Überzeugung des Gerichts erstellen. Das ist aber ohnehin Voraussetzung, damit eine Tatsachenbehauptung in die Anklage aufgenommen werden darf», findet das Bundesgericht und sieht darin auch keine «Gefahr einer unzulässigen Beeinflussung des Gerichts durch die Anklage» – womit weder die Waffengleichheit, noch das Fairnessgebot oder das Anklageprinzip verletzt seien.
Wieviel Übersetzung darf es sein?
Im letzten Punkt geht es schliesslich um die Frage, ob im erstinstanzlichen Verfahren die Rechte des einzigen Beschuldigten französischer Muttersprache verletzt worden waren, weil ihm nicht sämtliche Rechtsakte übersetzt worden waren – ja nicht einmal die vollständige Anklageschrift. Das Bundesgericht verweist hierzu auf Art. 68 Abs. 2 StPO. Dieser statuiere, «im Einklang mit der Rechtsprechung zu Art. 6 Ziff. 3 EMRK -, dass der beschuldigten Person der „wesentliche Inhalt“ der wichtigsten Verfahrenshandlungen in einer ihr verständlichen Sprache zur Kenntnis gebracht wird. Weder das Landes- noch das Völkerrecht schreiben vor, dass Passagen von Dokumenten zu übersetzen sind, die für das Verständnis der gegen die beschuldigte Person erhobenen Vorwürfe nicht von Bedeutung sind.» Konkret weist das Bundesgericht darauf hin, dass es nicht nötig sei, diejenigen Teile der Anklageschrift zu übersetzen, in denen der Beschuldigte französischer Sprache überhaupt keine Rolle spielte.
Was bedeutet das Urteil?
Von den Boulevardmedien wie 20MINUTEN.CH bis zum TAGESANZEIGER machten heute teils abenteuerliche Interpretationen des Bundesgerichts die Runde. Vincenz und Stocker müssten jetzt doch ins Gefängnis, hiess es da und dort bereits, an anderer Stelle war von einem «definitiven erstinstanzlichen Urteil» die Rede. Beides ist Quatsch.
Richtig ist, dass das Bundesgericht das Obergericht Zürich korrigiert und das Urteil vom 25. Januar 2024 aufhebt. Das bedeutet, dass die Anklageschrift sehr wohl rechtens war und auch keine zusätzlichen Übersetzungen in französische hätten erstellt werden müssen. Es handelt sich bei diesen Punkten um formelle Mängel, die auch in einem Berufungsverfahren als erstes geprüft werden. Kommt ein Gericht, wie es das Obergericht tat, zum Schluss, dass ein Urteil bereits wegen gravierender formeller Fehler aufgehoben wird, prüft es häufig die materiellen Rügen gar nicht erst. So war es auch hier geschehen.
Das Urteil des Bundesgerichts heisst jetzt primär einmal, dass keine neue Anklageschrift erstellt und das Bezirksgericht Zürich nicht aufgrund der gerügten Mängel noch einmal neu urteilen muss.
Muss das Bezirksgericht Zürich definitiv nicht mehr hinter diesen Fall?
Dafür ist das Zürcher Obergericht nun eingeladen, sich um die materiellen Rügen am Urteil des Bezirksgericht Zürich zu kümmern und diese Punkte zu beurteilen. Zu welchem Schluss das Obergericht dabei kommt, bleibt offen: Es kann die Rügen der Beschuldigten allesamt verwerfen und das Urteil des Bezirksgerichts (inklusive der Strafen) bestätigen. Es kann aber auch alle oder auch nur einige der Rügen gutheissen. Bei solchen Urteilen agiert ein Obergericht in der Regel reformatorisch, d.h. es korrigiert das Urteil gleich selbst und passt es an – inklusive Strafmass (Art. 408 StPO). Dabei kann die Strafe sowohl schärfer als auch milder ausfallen. Ein solches Urteil ersetzt dann dasjenige der Vorinstanz. Sowohl den Beschuldigten wie der Staatsanwaltschaft und den Nebenklägern bliebe aber noch die Möglichkeit offen, mit einer strafrechtlichen Beschwerde ans Bundesgericht zu gelangen.
Erachtet das Obergericht die Mängel des Bezirksgerichts aber als derart schwerwiegend und als «nicht heilbar» im Berufungsverfahren, kann es das Urteil auch zur Überarbeitung im Sinne der Erwägungen des Obergerichts an die untere Instanz zurückweisen (Art. 409 StPO). Das hatte das Obergericht mit seinem letzten Urteil in der causa bereits versucht, wenngleich es jetzt zurückgepfiffen wurde. Es ist deshalb nicht vollständig auszuschliessen, dass das Obergericht auch bei der Prüfung der nächsten Punkte des erstinstanzlichen Urteils noch einmal so schwerwiegende Fehler sieht, dass es wieder an das Bezirksgericht zurückweist. Selbstverständlich könnten dann die involvierten Parteien noch einmal ans Bundesgericht gelangen, wie sie es bereits taten.
Käme es tatsächlich – eher überraschend – zu einer Rückweisung ans Bezirksgericht (und würde dies vom Bundesgericht auch noch bestätigt), müsste sich das Bezirksgericht dann doch noch einmal mit dem Fall befassen und neu urteilen, anhand der Vorgaben des Obergerichts. Natürlich stünde nach diesem neuerlichen Urteil der ersten Instanz wiederum der gesamte Rechtsmittelweg offen, d.h. das ganze Rösslispiel begänne von Neuem.
(Titelbild: Bundesgericht)
Das erstinstanzliche Urteil
Nach acht Prozesstagen entschied das Zürcher Bezirksgericht am 11. April 2022, dass die beiden Hauptbeschuldigten in der Raiffeisen-Affäre, Pierin Vincenz und Beat Stocker, unter anderem des Betrugs, der mehrfachen qualifizierten ungetreuen Geschäftsbesorgung und der mehrfachen passiven Privatbestechung schuldig seien. Vom Vorwurf des gewerbsmässigen Betrugs wurden sie hingegen freigesprochen.
Pierin Vincenz erhielt eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten sowie eine Geldstrafe von 280 Tagen à CHF 3’000.–. Beat Stocker sollte für vier Jahre ins Gefängnis und eine Geldstrafe von 160 Tagessätzen à CHF 3’000.– bezahlen. Die Geldstrafen wurden bei einer Probezeit von 2 Jahren bedingt ausgesprochen. Die Freiheitsstrafen überstiegen hingegen die Schwelle von 24 Monaten, bis zu der Freiheitsstrafen noch bedingt ausgesprochen werden können.
Von den weiteren Beschuldigten wurde der PR-Berater eines der Hauptbeschuldigten von allen Vorwürfen freigesprochen, drei Nebenangeklagte wurden zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Gegen einen Beschuldigten, der unterdessen verstorben ist, wurde das Verfahren wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.
Verschiedene renommierte Rechtsexperten wie der Fribourger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli oder der Berner Wirtschaftsrechtsprofessor Peter V. Kunz hatten verschiedentlich scharfe Kritik am Verfahren wie am Urteil geübt. Viele Juristen sind überzeugt, dass das erstinstanzliche Urteil einer weiteren Überprüfung im Instanzenzug nicht standhalten werde.
Wie ausführlich sollte eine Anklageschrift sein, um sowohl den Anforderungen der Strafprozessordnung zu entsprechen als auch die Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigten zu gewährleisten? Wo liegt die Grenze zwischen notwendiger Detailtiefe und unzulässiger Beeinflussung des Gerichts?
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